Mondmilchgubel Kriminalroman
Nach der kurzen Andacht wird die Trauergemeinde gebeten, sich in die römisch-katholische Kirche zu begeben. Früher hätten vier Männer aus der Familie den Sarg feierlich zu Grabe getragen. Dort wäre er vor den Augen aller Anwesenden langsam in die Grube gesenkt worden. Der Pfarrer hätte mit einer kleinen Schaufel Erde auf den Sarg geworfen und die Worte ›Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir wieder werden‹ gesprochen. Vorbei das dramatische Auffallen der Erde auf dem Sarg, vorbei das Aufschluchzen der Trauernden. Heute wird der Sarg von den Friedhofgärtnern in die Gruft gelassen, während sich die Trauergemeinde in der Kirche versammelt.
Nach und nach füllen sich die vorderen Sitzreihen in der Kirche mit Kunos Angehörigen, Freunden und Arbeitskollegen. Immer mehr Leute strömen herein. Die beiden Frauen wählen ebenfalls einen Platz in den vorderen Reihen. Viktoria greift nach einem der kleinen Hefte, die auf den Bänken bereitliegen. Erfreut stellt sie fest, dass auf der Titelseite ein Auszug aus Kaschnitz’ Requiem prangt.
Welchen Weges ging er, Fährfrau? Übers Wasser trockenen Fußes. Welchen Weg ging er, Hirte? Berghinüber leichten Atems. Welchen Weges ging er, Bergmann? In der Erde lag er still. Was stand auf seinem Gesicht geschrieben? Frieden, sagten alle, Frieden.
Die Glocken verstummen, die Trauergäste setzen sich. Ein Chor stimmt Selig sind die Toten aus Brahms Requiem an. Danach liest der Priester die Messe. So wie Kuno aus seinem Leben mit Iris erzählt, ist Viktoria beeindruckt. Er erwähnt, was sie verbunden, was er an ihr geschätzt hat. Nicht salbungsvoll, eher wehmütig. Er spricht von ihrer Liebe, die sie ihm in Form von Fürsorglichkeit zukommen ließ. Auch dass sie manchmal ihre Differenzen hatten, führt er an. Er erzählt von ihren Kochkünsten und ihrer Liebe zur Literatur und der klassischen Musik. Nach seinem Auftritt zweifelt niemand mehr daran, dass er seine Frau geliebt hat.
»Viktoria Jung, die Freundin meiner verstorbenen Frau, möchte vielleicht auch noch ein paar Worte sagen.« Er kehrt mit gesenktem Kopf zu seinem Platz zurück.
Damit hat Viktoria nicht gerechnet. Sie zögert. Als die Menge unruhig wird, steht sie auf und schreitet nach vorn.
Sie atmet tief durch. »Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, was Iris und mich verbunden hat.« Sie lässt ihren Blick über die Trauergäste schweifen. »Jetzt, wo Iris von uns gegangen ist, spüre ich, wie leer es in meinem Leben geworden ist. Sie fehlt mir, auch ihr köstlicher Schokoladenkuchen.« Ein Lächeln wogt über die Menge. »Iris’ Liebe zur Natur war so umfassend, dass ich begann, die Natur durch ihre Augen zu sehen. Liebe Trauergäste, haben Sie sich schon einmal den Morgentau durch einen Feldstecher angeschaut? Sie sollten es unbedingt tun. Iris’ Wunsch, die Wunder des Lebens zu ergründen, machte sie zu einer anregenden Gesprächspartnerin. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr ich mich an ihre Anwesenheit gewöhnt hatte und wie selbstverständlich es für mich war, dass sie meinen Alltag bereicherte. Ich tue mich unendlich schwer mit der Tatsache, dass jetzt nichts mehr so ist, wie es einst war. Ihr gewaltsamer Tod hat wie ein Blitz in mein Leben eingeschlagen.« Sie macht eine kurze Pause. »Ich verdanke Iris viel, und ich wünschte, dass ich es ihr noch hätte sagen können.« Noch einmal hält sie inne, dann endet sie mit den Worten: »Möge Iris ruhen in Frieden.«
Wie sie zu ihrem Platz zurückkehrt, schiebt sich Möller in ihr Blickfeld. Ihr Atem stockt. Sie sehnt sich nach ihm. Sie sehnt sich nach Trost. Doch der Polizist blickt durch sie hindurch, als sei sie nicht vorhanden. Sie schluckt leer und taucht weg. Erst als der Priester das Schlusswort spricht und der Chor das letzte Lied anstimmt, kommt sie wieder zu sich.
Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muss. Siehe, meine Tage sind eine Hand breit vor dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir …
In den folgenden Tagen wird sie vergebens diesem flüchtigen Augenblick der Versöhnung nachspüren. Die Glocken läuten. Die Trauergäste verlassen die Kirche. Das Kondolieren beginnt. Sie schaut sich um. Möller ist nirgendwo zu sehen. Neben Kuno entdeckt sie eine zierliche Frau in einem dunkelblauen Kostüm. Ihr langes, pechschwarzes Haar schimmert im Sonnenlicht. Sie sieht, wie sie ihre Hand auf Kunos Arm legt und ihm etwas ins Ohr
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