Mondpapier und Silberschwert (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
„Merkst du das nicht?“
„Er hat mich noch nie ausgehorcht. Es geht wirklich nur um Pollux.“
„Pass bloß auf“, meinte Scarlett. „Niemand traut Grohann über den Weg!“
„Mach dir keine Sorgen“, versicherte Thuna mit leuchtenden Augen, „ich besuche meinen fliegenden Löwen und werde Grohann keine Geheimnisse über uns verraten.“
Scarlett konnte Thuna auf geradezu vorbildliche Weise zu Vernunft und Vorsicht raten, doch sobald es darum ging, selbst vernünftig zu sein, fiel ihr das sehr schwer. Es gab da nämlich eine Idee, die Gerald in den Ferien gehabt hatte, und Scarlett wollte sie unbedingt ausprobieren. Dazu brauchte sie allerdings Marias Hilfe, was ein kleines Problem darstellte, denn Maria lag seit einer Woche krank im Bett. Am ersten Schultag hatte sich Maria noch tapfer in den Unterricht geschleppt, doch spätestens als sie eine magikalisch angereicherte Nährlösung im Naturkreisläufe-Unterricht verschüttete und daraufhin violette Pilze auf ihrem Arbeitstisch wucherten, schickte Viego Vandalez das hustende, niesende und wirres Zeug redende Mädchen ins Bett.
Dort lag sie dann die nächsten fünf Tage, ohne viel zu tun. Zum Lesen war sie zu müde, zum Schlafen zu wach, und so starrte sie die ganze Zeit an die Decke oder wahlweise zum Fenster. Das Fieber gaukelte ihr vor, die Wände von Zimmer 773 seien durchlässig, was zur Folge hatte, dass lauter eingebildete Wesen an Marias Bettrand auftauchten, die ihr etwas erzählten und irgendwann wieder verschwanden. Wenn Maria den eingebildeten Wesen ausnahmsweise antwortete, dann erschreckte sie damit jeden realen, lebendigen Menschen im Zimmer zu Tode. Sie redete nämlich rückwärts oder spiegelverkehrt, jedenfalls klang es gruselig, vor allem, da niemand zu sehen war, mit dem Maria sprach. Estephaga, die jeden Tag zweimal vorbeikam, um nach Maria zu sehen und ihr Medizin zu verabreichen, sah keinen Grund zur Sorge.
„Das geht vorbei, wenn das Fieber nachlässt. Ihr passt einfach auf, dass sie euch nicht ansteckt. Geht ihr aus dem Weg, wenn sie niest!“
Jemandem in einem so kleinen Zimmer, das man zu fünft bewohnte, aus dem Weg zu gehen, war nicht so einfach, doch bis jetzt hatte sich noch niemand angesteckt. Warum es Maria so heftig erwischt hatte, während sich Thuna bester Gesundheit erfreute, war rätselhaft. Vielleicht hatten Marias Eltern ja doch recht, wenn sie behaupteten, dass Maria sehr zart besaitet sei und man besondere Rücksicht auf sie nehmen müsse.
Hätten die Mädchen Maria gefragt, was los war, und wäre Maria in der Lage gewesen, normal zu antworten, dann hätten die Freundinnen erfahren, dass es sehr wohl einen Grund für Marias Zustand gab. Dieser Grund befand sich an dem Ort, den Maria betrat, wenn sie durch einen Spiegel auf die andere Seite ihrer Welt stieg. Was das für ein Ort war, in den sich Maria so gerne zurückzog, wusste sie selbst nicht so genau. Doch dort, in der Welt hinter den Spiegeln, herrschte Frieden und eine eigenartige Stille. Es gab Räume, die ganz nach Marias Geschmack eingerichtet waren, Bücher, von denen Maria noch nie zuvor gehört hatte und die sie mit Begeisterung verschlang, und es gab Türen in einem Treppenhaus, die vermutlich in fremde Welten führten. Maria erreichte ihren besonderen Ort von jedem Spiegel aus, der groß genug war, dass sie hindurchsteigen konnte – auch im Haus der Montelago Fenestras war sie regelmäßig auf der anderen Seite verschwunden.
Es gab in der Spiegelwelt ein paar harmlose Geschöpfe, die Maria Gesellschaft leisteten. Eines davon war der uniformierte Affe gewesen, der im letzten Jahr vom Engelsdämon ermordet worden war. Diese Untat hatte ihre Spuren hinterlassen, vor allem aber ein Grab, das Marias Welt hinter den Spiegeln ernster und trauriger gemacht hatte. Manchmal verließ Maria ihre heimeligen Räume, um im Garten der Spiegelwelt spazieren zu gehen. Jedes Mal besuchte sie das Grab des getöteten Affen, setzte sich neben den gelben Schlüsselblumen, die es schmückten, ins Gras und blickte in einen Himmel, von dem sie nicht einmal wusste, ob er wirklich existierte.
Erinnerungen kamen und gingen, wenn sie dort saß, und es fühlte sich an, als wären es ihre eigenen. Es waren aber nicht ihre Erinnerungen, sondern die einer jungen Prinzessin des letzten Kinyptischen Reiches. Die Prinzessin war ein Kind gewesen, als ihr Vater, der Kaiser, in der entscheidenden Schlacht um Amuylett fiel. Die Getreuen des Kaisers krönten daraufhin die Prinzessin
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