Mondpapier und Silberschwert (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
zu seiner Nachfolgerin. Da sie aber ein Kind war und die Rebellen die Schlacht um Amuylett gewannen, wurde sie nie als rechtmäßige Kaiserin anerkannt. Es mochte auch daran liegen, dass sie an einer Krankheit litt, einer Geisteskrankheit, die zunehmend ihre Sinne verwirrt hatte.
Diese letzte Kaiserin, die nur in wenigen Geschichtsbüchern von Amuylett erwähnt wurde, war nach dem Sieg der Rebellen verschwunden. Niemand wusste, was aus dem Mädchen geworden war, man nahm aber an, dass sie das Ende des letzten Kinyptischen Reiches nicht überlebt hatte. Ihr ergebener Untertan, General Kreutz-Fortmann, war in der letzten Schlacht gefallen oder vielmehr ein Opfer der siegreichen Rebellen geworden. Sie hatten ihn im Hof der Festung Sumpfloch verscharrt und sein Grab mit einer Trümmersäule und etlichen Zaubersprüchen versiegelt, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder erneuert worden waren.
Doch im letzten Jahr war die Trümmersäule gefallen und die Zauber waren zerrissen worden. Jemand hatte dem toten General ein Gespensterleben eingehaucht (man nahm an, dass es Hanns oder Grindgürtel von Fortinbrack gewesen waren), sodass er fortan in der Schule spukte. Man sah ihn nicht oft und er hatte sich als erstaunlich harmloses Gespenst erwiesen, sodass sich kaum noch jemand um den Vorfall kümmerte.
Was die meisten Bewohner von Sumpfloch aber nicht wussten, war, dass das Gespenst regelmäßig in Marias Spiegelwelt auftauchte und ihr dort in alter Kraft und Frische zur Seite stand. Als wäre er gar nicht tot, sondern wieder am Leben. Er war auch nicht davon zu überzeugen, dass Maria ein Mädchen einer anderen Zeit war. Er hielt sie für die Prinzessin, die später zur letzten Kaiserin gekrönt worden war, und der er stets treu gedient hatte.
Das wäre zwar seltsam, aber nicht weiter tragisch gewesen, hätte Maria nicht Folgendes bemerkt: Umso länger sie sich in der Spiegelwelt aufhielt und die Gesellschaft ihres treuen Generals genoss, desto mehr verwandelte sie sich in das Mädchen, für das er sie hielt. Ja, manchmal zweifelte sie sogar daran, ob sie nicht beides war: Maria, das Schulmädchen aus Sumpfloch, und Ihre Hoheit, die Prinzessin und spätere Kaiserin des letzten Kinyptischen Reiches.
Bestärkt wurde sie in dieser abenteuerlichen Annahme durch die Erinnerungen, die immer wieder in ihren Gedanken auftauchten, wenn sie am Grab des toten Äffchens saß. Sie konnte sich vorstellen, wie ihr Vater, der Kaiser , ausgesehen hatte und wie das Leben bei Hof abgelaufen war. Wenn Maria vom Garten aus die Räume betrachtete, in denen sie so oft las oder Tee trank, erkannte sie, dass sie zu einem Schloss gehörten. Dieses Schloss ähnelte auf erschreckende Weise dem Gebäude, das im Lexikon unter „Wohnsitz des letzten Kinyptischen Kaisers“ abgebildet war. Oder vielmehr der Ruine, die dort abgebildet war, denn das Schloss war im Krieg zerstört worden. Nur noch die Mauer eines Gebäudegeflügels war erhalten, doch genau diese Mauer erkannte Maria wieder, wenn sie am Grab des Äffchens saß.
Die Grippe, an der Maria nun in Sumpfloch litt, war keine Folge der Nachtfahrten im Schlitten, sondern das Resultat einer unvorsichtigen Entdeckungsreise im Garten des Schlosses. Maria war an einem Spätnachmittag (es gab keine richtigen Tageszeiten in der Spiegelwelt, doch der Himmel hatte die Farbe eines Spätnachmittages gehabt) auf den Wegen zwischen den Blumenrabatten umhergestreift und hatte zwischen zwei Brunnen eine Treppe gefunden, die in die Tiefe führte. Maria war neugierig hinabgestiegen und in ein Gewölbe gelangt, in dem steinerne Bänke standen. Drei runde Buntglasfenster färbten die einfallende Nachmittagssonne blau, grün und rot. Hier unten war es kühl und feucht. Maria fröstelte, da sie ihre Strickjacke im Gras zurückgelassen hatte. Schon wollte sie das Gewölbe mit dem gedämpften, farbigen Licht verlassen, als sie ein gequältes Wimmern hörte, das aus der dunkelsten Ecke des Gewölbes drang.
Es klang so mitleiderregend, dass Maria auf die Knie ging und auf allen Vieren in die besonders schwarze, kalte Nische kletterte, aus der das Wimmern kam. Maria musste sich sehr ducken, so klein war der Winkel, in dem das Tier lag, doch schließlich konnte sie es erkennen: Es war weiß und hatte sich zusammengerollt. Da es leise, lang gezogene Laute des Schmerzes von sich gab, streckte Maria eine Hand aus, um es zu erreichen. Sie berührte vorsichtig den weichen, weißen Pelz und wunderte sich kurz, wie eiskalt
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