Mondpapier und Silberschwert (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
verdeckten die Augenlider. Darunter kamen Augen von einem milchigen Graublau zum Vorschein, in deren Mitte schwarze Löcher saßen, aus denen eine feindselige Energie strömen musste. Lisandra fühlte sich jedenfalls angegriffen und verabscheut, als der Blick dieser Augen sie traf. Über Yu Kons Gesichtszüge musste man nicht viele Worte verlieren. Alle Falten und Kerben, die Bösartigkeit, Unmut, Zorn und Missgunst in einem Gesicht hinterlassen, waren zur Genüge vorhanden, man konnte sie regelrecht als Gräben bezeichnen.
„Du!“, sagte Yu Kon jetzt und es klang wie der konzentrierte Ausdruck bodenloser Verachtung.
Lisandra war immer noch nicht des Sprechens mächtig, darum nickte sie nur eifrig und knickste fast genauso demütig, wie es der quietschende Jummigummi immer tat. Es schien ihr die angemessene Reaktion zu sein, eine mit der Botschaft: Monster-friss-mich-nicht!
Yu Kon kniff die Augen zusammen und kratzte sich auf unappetitliche Weise in seinem verfilzten Barthaar unterm Kinn. Der Wind, der unablässig heulte und stürmte und Lisandra zum Zittern brachte, trug eine Wolke von ungewaschenem schneefarbenem Meister an sie heran. Auch das noch. Der Mann war in jeder Hinsicht widerlich.
„Du rennst jetzt um dein Leben“, sagte der Meister. „Mal sehen, wie lange du durchhältst.“
Lisandra staunte verwundert. Doch sie musste sich nicht lange fragen, was diese ungeheuerliche Ankündigung bedeuten sollte, denn Yu Kon ließ i hr drastische Taten folgen. Ein besonders heftige r Windstoß schien den Meister zu ergreifen und durcheinanderzuwirbeln, doch als sich seine Umrisse wieder verfestigten, erkannte Lisandra für kurze Zeit einen zotteligen Eisbären von hagerer Statur. Danach verlor sie ihn aus dem Blick, da sie selbst von eine m ähnlichen Windstoß ergriffen wurde, der sie schrumpfen ließ und in etwas verwandelte, das auf vier Beinen stand und dem Eisbären nicht mal annähernd bis zur Brust reichte.
„Renn!“, hörte Lisandra Haul schreien und dann kam auch schon das schwarze Maul des Eisbären auf sie zugerast, um sie zu packen.
Was auch immer Lisandra für ein Tier war – sie kam sich vor wie ein Fuchs oder ein Hund – sie besaß den Instinkt eines Wildtiers und hatte dicke Fellbüsc hel an den Fußsohlen, die es ihr erlaubten, über die Schneeflächen zu rennen, ohne einzusinken. Lisandra dachte nicht mehr viel, sie befand sich auf der Flucht, bevor sie es überhaupt merkte. Sie hetzte durch den Schnee ohne zu wissen , wohin sie rannte. Es war ihr egal, solange sie nur vorwärts kam. Sie sprang über Buckel, Mauern, Buschwerk, umgestürzte Baumstämme und tiefe Gräben, rannte in die Schatten des bösen Waldes, rannte den Weg entlang Richtung Gürkel, schlug sich quer durchs Hügelland, sprang über einen Zaun, fand sich in der Nähe der dampfenden Sümpfe von Sumpfloch wieder, zwängte sich durch ein Loch, suchte vergeblich Schutz in einem Abflussrohr unter der Straße, robbte ins Freie, rannte weiter und wusste doch, dass die Beine sie bald nicht mehr tragen würden. Nur Todesangst trieb sie weiter. Denn ihr Verfolger änderte je nach Anlass seine Gestalt und seine Waffen. Lisandra erkannte die Gestalt ihres Feindes meist erst, wenn er sie mit seinen scharfen Krallen erwischte, wenn der große Schnabel eines Rau b vogels sie packte und sie sich blutend losriss, wenn eine Pranke nach ihr schlug oder sich die spitzen Zähne einer Ratte in ihr Hinterbein schlugen. Es gab keinen Ort, an dem Lisandra sicher war , und die Kraft und Ausdauer ihres Feindes schienen unbegrenzt.
Mal sehen, wie lange du durchhältst!
Diese Drohung hatte sie immer im Hinterkopf, doch sie wusste nicht, was mit ihr passieren würde, wenn sie nicht mehr durchhielt. Sie war bereits verletzt, hatte Wunden an den Hinterläufen, Schrammen am Rücken, Bissverletzungen am Hals und im Genick. Was würde Yu Kon mit ihr machen, wenn sie aufgab und zusammenbrach? Würde er sie vielleicht sogar töten in dem Wissen, dass sie nicht sterben konnte ? Um auszuprobieren, ob es stimmte, was man ihm über Lisandra erzählt hatte? Die nackte Panik trieb Lisandra an bis zur endgültigen Erschöpfung. Ein Ast, der aus dem Schnee ragte und den sie zu spät bemerkte, wurde ihr zum Verhängnis. Sie sprang nicht hoch genug, blieb an ihm hängen, strauchelte, drehte sich halb in der Luft und fiel rückwärts in den Schnee. Ein großer Vogel, dessen riesige Flügel den Himmel verdunkelten, rammte seine Krallen in ihre Brust und erstickte
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