Mondpapier und Silberschwert (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
sie fast mit seinem Gewicht. Lisandra konnte sich nicht rühren, sah nur den Schnabel, von dem sie fürchtete, er werde ihr gleich die Augen aushacken, und verlor vor Erschöpfung für einen Augenblick das Bewusstsein.
„Jämmerlich!“, hörte sie eine Stimme sagen, als sie wieder zu sich kam. „Jämmerlich.“
Lisandra lag auf dem Rücken im tiefen Schnee und ihr war eiskalt. Sie war durchgeschwitzt, doch zitterte vor Erschöpfung. Über sich sah sie den endlosen, weißgrauen Himmel, in dem Wolkenmassen miteinander rangen und sich gegenseitig mit stürmischem Gebaren fortzustoßen versuchten. Der Wind pfiff über sie hinweg. Sie war wieder ein Mensch und drehte sich mühsam auf den Bauch, um sich langsam aufzurichten.
Es schien Jahre zu dauern, bis sie es endlich schaffte, über den Schnee, in dem sie lag, hinwegzugucken. Was sie sah, erfüllte sie mit Erleichterung und Zorn. Yu Kon, Meister des schnee farbenen Todes, hatte ihr den Rücken zugewandt und war fortgegangen. Die braungraue Kutte verschwamm mit dem Waldrand im Hintergrund und bald war der Lehrer nicht mehr zu sehen. Er hatte sie einfach hier liegen gelassen, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie es in ihrem Zustand zurück in die Festung schaffen sollte. Lisandra hatte immer gedacht, dass sie den Geldmorgul hasste, dem ihre Mutter gehörte. Doch nie hatte sie zärtlicher an den fetten, schleimigen, geldgierigen Morgul gedacht als heute. Jetzt, da sie erfuhr, wie kalt und böse echter Hass in den Eingeweiden brennen kann.
„Li-lisandra?“
Sie hörte es nach einer Ewigkeit , die sie entkräftet im Schnee gelegen hatte, weil sie zu nichts anderem mehr fähig war.
„Lockenköpfchen?“
Die Gesichter von Hanns und Haul tauchten über Lisandra auf und sie brachte es nicht mal fertig, etwas zu sagen.
„Was hat er sich bloß dabei ge-gedacht?“, hörte sie Hanns ausrufen. „Sie ka-kann sich doch gar nicht wehren!“
„Solange wir nicht wissen, warum er sie unterrichtet“, antwortete Haul, „solange werden wir auch nicht rauskriegen, was er sich dabei denkt.“
Haul ging neben Lisandra in die Knie und versuchte vorsichtig, ihren Oberkörper anzuheben.
„Geht das? Oder tut das weh?“
„Gehwscho“, brachte Lisandra hervor und schmeckte Blut dabei. Überhaupt klangen die Worte nicht richtig und sie hatte das dumme Gefühl, dass es da eine Lücke in ihren Zähnen gab, die früher nicht dagewesen war.
„Oh je!“, hörte sie Hanns sagen.
„Ich trag dich“, kündigte Haul an. „Einverstanden?“
Lisandra nickte. Ihr war alles recht, sogar dass ein Leibwächter-Gespenst Hand anlegte und sie nun mit beiden Armen hochhob.
„Geht e s?“, fragte Hanns. „Soll ich helfen?“
Haul rückte Lisandra irgendwie in seinen Armen zurecht, änderte noch mal den Griff, und dann trug er sie über Stock und Stein bis in den Schulgarten, wo ihnen eine Maküle in Begleitung von Estephaga Glazard entgegenkam.
„Um Himmels willen!“, rief Estephaga. „Was ist mit dem armen Kind passiert?“
Die Maküle streckte ihre makellosen, leicht leuchtenden Arme aus und Haul übergab seine Fracht vorsichtig in ihre Obhut.
„Erster Tag bei Yu-Yu Kon“, erklärte Hanns.
„Dagegen hattet ihr beiden ja nur Kratzer!“, sagte Estephaga Glazard. „Ich kümmere mich sofort um sie. Danke, dass ihr sie gleich hergebracht habt!“
„Wir hatten Angst, dass er sie umbringt“, sagte Haul. „Sie schafft es doch, oder?“
„Sie ist zäh“, antwortete Este phaga und an die Maküle gewandt, meinte sie: „Los geht’s! Krankenstation, vierter Stock. Und ganz vorsichtig!“
Das musste man der Maküle nicht sagen. Im Gegensatz zu vorher, als Haul Lisandra durch den Schnee getragen hatte und sie ihn hatte keuchen hören und die Erschütterungen bei jedem Schritt gespürt hatte, war es Lisandra nun, als ob sie schwebte. Vielleicht waren die magikalischen, künstlichen Lebensformen ja doch nicht so übel. In diesem Fall waren sie zweifellos hilfreich, denn Lisandra landete so sanft wie nur möglich auf ihrem Krankenbett und als die atemlose Estephaga eintraf, erklärte die Maküle:
„Ich habe eine Schmerzverringerungsmaßnahme durchgeführt!“
„Na, wunderbar“, sagte Estephaga wenig dankbar und gar nicht ehrfürchtig. „Hoffen wir, dass sie sich mit meinen Maßnahmen verträgt. Sie können jetzt gehen.“
„Nein“, erwiderte die Maküle höflich, aber bestimmt. „Ich bleibe hier.“
„Muss das sein?“
„Befehl. Ich soll meine Vorgesetzten über
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