Mondpapier und Silberschwert (Die Sumpfloch-Saga) (German Edition)
das Gesicht und die Nase mit den Ärmeln abzuwischen und vergeblich in ihren Hosentaschen nach einem Taschentuch zu suchen. Sie blinzelte durch ihre verquollenen Augen und nahm etwas Helles wahr, das vorher noch nicht dagewesen war. Alles war verschwommen, sie bemühte sich um einen schärferen Blick, indem sie die nassen Augen aufriss. Langsam wurde das Bild klarer , bis es plötzlich überdeutlich war: Vor ihren Füßen stand, von silbrigem Glanz umgeben, ein Rabe mit großen, klugen Augen, der sie ansah, als könnte er tief in ihrem Herzen lesen und alles verstehen.
Lisandra war so verblüfft, dass sie das Weinen und das Schnappen nach Luft vergaß und den Raben nur ansah, ungläubig und verwundert. ‚Prägt euch sein Aussehen ein und die Art, wie er sich verhält, damit ihr ihn jederzeit wiederfinden könnt’, hatte Yu Kon gesagt. Doch Lisandra musste sich nichts einprägen, denn diesen Anblick würde sie nie vergessen.
Hier lebte er also, ihr silberner Rabe. An diesem schwarzen Ort ihres Versagens. Das war kein Ort, den Lisandra liebte, trotzdem war sie froh, ihn gefunden zu haben. Der Rabe zeigte ihr, dass wenn man glaubt, am Ende angelangt zu sein, ein neuer Anfang aufleuchtet. Etwas, das vorher nicht da war und vom dunkelsten Ort an einen neuen Ort führt. Lisandra war bereit, sich vom silbernen Raben leiten zu lassen. Langsam, ganz langsam fiel die Verzweiflung von ihr ab und sie merkte, wie sich ihre Gesichtsmuskeln entspannten. Plötzlich und ohne Grund lächelte sie und der Rabe lächelte zurück, obwohl Raben gar nicht lächeln können, ob sie nun silbern sind oder nicht.
Das Abendessen war schon in vollem Gange, als Lisandra in den Hungersaal trat und sich zu ihren Freundinnen an den Tisch setzte.
„Oh, Lissi!“, rief Thuna. „Du siehst schrecklich aus!“
Ja, Lisandra sah bestimmt schrecklich aus. Total verheult und zerzaust und als hätte man sie einmal von innen nach außen gestülpt und wieder zurück. So fühlte sie sich auch. Doch sie strahlte.
„Ich habe den silbernen Raben gefunden!“
Die Mädchen klatschten und jubelten und klopften Lisandra auf die Schulter.
„Darauf kannst du sehr stolz sein!“, rief Scarlett.
Stolz war Lisandra überhaupt nicht, aber sie wollte nicht näher darauf eingehen, auf welch wenig ruhmreiche Art und Weise sie den Raben gefunden hatte. Sie strahlte nur weiter vor sich hin und bedankte sich für die Lobpreisungen ihrer Freundinnen.
„Zur Belohnung bekommst du das hier!“, sagte Maria und öffnete vor Lisandra die Schachtel mit dem Kräuterwobbler. Dazu schob sie ihr den hübsch eingepackten Winterpilzkuchen aus dem Baumstumpf hin.
„Na? Ist das nach deinem Geschmack?“
Lisandra starrte den Kräuterwobbler an und starrte und starrte.
„Was ist? Hast du schon was gegessen?“
Lisandra schüttelte den Kopf. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Sie musste halb ohnmächtig sein vor Hunger, doch der Appetit war ihr komplett vergangen.
„Ich kann nichts essen.“
Dann drehte sie sich um, um zu sehen, ob Hanns und Haul da waren. Sie entdeckte aber nur Hanns, Hauls Platz war leer.
„Lisandra?“, fragte Thuna und legte ihr besorgt die Hand auf den Arm. „Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Ja, ja, keine Sorge.“
„Aber wir haben noch nie erlebt, dass du keinen Appetit hast!“
Lisandra wandte sich wieder ihren Freundinnen zu und dem Kräuterwobbler, dessen Duft ihr in die Nase stieg, ohne dass sie etwas dabei empfand. Dann griff sie nach dem trockenen, harten Brot, das heute zum Gemüsepudding gereicht wurde und knabberte daran.
„Es gibt immer ein erstes Mal“, sagte sie zu ihren schockierten Freundinnen und grinste. „Für alles!“
Kapitel 12: Angriff der Hermeline
„Du hast was?“, rief Berry entsetzt.
Sie saßen im Zimmer 773 auf ihren Betten und fragten Lisandra über den Tag aus. Sie rückte nur häppchenweise mit den Informationen heraus, erzählte, was sie von Haul über die Super-Gespenster erfahren hatte und dass sie Geicko zusammen mit Lori gesehen hatte. Als sie deren Kuss erwähnte, ohne blass zu werden, die Lippen aufeinanderzupressen und die Stimme zu senken, kam es ihren Freundinnen verdächtig vor. Sie hörten nicht auf, nachzubohren und als Scarlett zum dritten Mal fragte: „Und was hast du dann gemacht ?“, antwortete Lisandra wahrheitsgemäß:
„Ich habe Haul geküsst.“
Berry war außer sich vor Empörung.
„Wie kannst du nur? Merkst du denn nicht, was hier
Weitere Kostenlose Bücher