Mondschwingen (German Edition)
Geschehen auf dem Podest besser beobachten. „Ich
muss runter“, sagte sie und bevor Svija sie festhalten konnte, war das Mädchen
schon davon geflogen. Sie schwebte dicht an den Häuserwänden, in den Schatten,
wo niemand sie sah.
Svija sah, wie sie das
Schwert hervorzog. Einen winzigen Augenblick lang verharrte sie weit über den
Köpfen ihrer Familie, bevor sie hinabstürzte.
Man hörte Thijs brüllen,
als Amber vor ihm aufkam. Sie streckte den Arm aus, die Schwertspitze klebte am
Hals ihres Bruders, doch im nächsten Moment fiel ihr die Waffe aus der Hand und
Thijs stieß sie zu Boden. „Verschwinde“, fauchte er. „Du hast hier nichts
verloren.“
Amber wollte sich
aufrappeln, doch Kastja zog sie an den Armen empor und hielt sie vor sich, wie
ein übergroßes Schutzschild.
„Ich hab nichts damit zu
tun, sagst du? Das ist meine Mutter, die du gerade umbringen willst!“ Ambers
Stimme bebte und brach beinahe, so laut schrie sie. „Gwaedja und ich haben
nichts mit eurem Streit zu tun. Wenn ihr euch hasst, dann bringt euch von mir
aus um, aber ohne mich und ohne Gwaeja.“
„Wie rührend.“ Mehr
sagte Thijs nicht, als fehlten ihm die Worte.
„Eine außerordentliche
Familienzusammenführung.“ Kastja nahm ein Messer entgegen, das ihm ein Jäger
hinstreckte und hielt es Amber genauso ans Kinn, wie Thijs es bei Gwaedja tat.
„Nun stehen wir hier und drohen mit dem Tod und wissen nicht mehr weiter.“
„Lass sie gehen.“
Gwaedjas Stimme war rau und hörte sich seltsam fremd an. „Sie hat erst recht
nichts mit eurem Irrsinn zu tun und ich will nicht schuld sein, wenn sie wegen
euch stirbt.“
Kastja schüttelte den
Kopf, immer wieder und leckte sich wie ein hungriges Tier über die Lippen. „Ich
lass sie gehen, wenn Gwaedja gehen darf. Leben für Leben, Tod für Tod.“
Nun sagte niemand der
vier ein Wort.
In Kastjas Umarmung sah
Amber seltsam verloren aus, fast so, als wüsste sie, dass sie sich befreien
musste, aber doch wusste, dass sie das erste und letzte Mal von einem Vater
umarmt wurde.
„Sie ist ein Mädchen,
deine Tochter, Kastja!“ Es war Thijs, der dies sagte und Kastjas Spott war so
deutlich aus seinem schrillen Lachen zu vernehmen, dass er Thijs wie eine
Ohrfeige entgegenschallte.
„Bedeutet sie dir etwas?
Willst du, dass sie überlebt?“ Blut floss plötzlich an Ambers Hals hinunter,
dunkle Spuren auf ihrer weißen Haut. Thijs regte sich nicht, doch Gwaedja
zuckte zusammen und schloss die Augen, als sie zu lange auf Ambers
blutbesudelten Hals blickte.
„Mach das noch einmal
und Gwaedja stirbt!“ Das Messer an Gwaedjas Kehle bewegte sich, doch Blut floss
keines.
„Das wirst du nicht tun
und weißt du warum? Weil du sie gar nicht töten willst. Du hast gehofft, ich
würde mich für meinen Tod entscheiden und nicht für Gwaedjas. Weil du mich
sterben sehen willst, nicht leiden, nur sterben. Weil du deine Mutter nicht
töten kannst, niemals.“
Ruckartig drehte Thijs
Gwaedja zu sich herum und hielt ihr die Waffe an die Brust.
„Mach es, mach es
schon.“
Erst jetzt bewegte sich
Amber in Kastjas Umarmung, doch er hielt sie fest, ließ sie nicht gehen. Und
darum brüllte sie. „Gwaedja darf nicht sterben!“
Vier mal rief sie es,
immer wieder. Gwaedja versuchte nicht davonzurennen, sie sagte auch nichts, sie
sah genauso erhaben aus, wie vorhin, als sie auf das Podest zugegangen war.
Es war totenstill auf
dem Platz der Gebrochenen Flügel. Die Zuschauer, die ganz nah am Podest
standen, hörten nur Thjis‘ Atem, schnell und ungleichmäßig.
„Ich kann nicht.“ Er
ließ das Messer fallen und das Geräusch der klirrenden Waffe war lauter, als
alle anderen Geräusche in den Gassen dahinter. Gwaedja knickte um und fiel zu
Boden. Ihre Röcke umfluteten sie in weißen Farben, als läge sie inmitten eines
Mondes.
Kastja ließ von Amber ab
und lief rückwärts bis zum Ende des Podests, so weit, dass er fast hinunterfiel.
„Und was jetzt?“, fragte er. „Darf ich wieder gehen, nach allem …“
„Gehen.“ Thijs sprach
das Wort langsam und leise aus, als müsste er es auf der Zunge schmecken.
Ein Weißer streckte ihm
einen Kelch entgegen. Thijs fuhr mit den Fingerspitzen über die schillernden
Steinchen am Griff, bevor er ihn schließlich entgegennahm. „Ich will ein
Zeichen, so etwas wie ein Zeichen. Ohne Vertrauen ist jede Entschuldigung
wertlos.“
„Du willst, dass ich
mich entschuldige?“ Kastjas Stimme war schrill. „Hier?“ Der Jägerkönig wirkte
gar nicht
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