Mondschwingen (German Edition)
wüsste, würd ich sagen,
er ist ein Scharlatan.“ Er schaute zu Nigs, der dicht am Bug saß.
„Er ist einer, sag ich
dir, er ist ein Scharlatan.“ Der Jäger lehnte sich gegen die Reling und
trommelte mit den Fingern aufs Holz. „Wenn er weiter so laut spricht und nichts
passiert, werfe ich ihn über Bord. Selbst Rubens ist ein besserer Anführer
gewesen.“
Rubens saß nur ein
kleines Stück über ihnen, im Mastkorb, wo der Wind an ihm rüttelte.
„Wie lang brauchst du
noch?“, rief er von oben zu Nigs hinunter, der noch immer vor und zurück
schaukelte. Seit heute duzte Rubens den Geisterbeschwörer wieder, weil jegliche
erschreckende Autorität von ihm abgefallen war.
„Wenn du nicht leise
bist, brauche ich noch sehr, sehr lange.“ Nigs öffnete kein einziges Mal die
Augen, sein Mund bewegte sich kaum, als spräche gar nicht er. Die Schiffsjungen
lachten und sahen anerkennend zu Rubens herauf.
„Was ist?“, schrie Nigs
plötzlich und fuhr auf. Er stand auf wackligen Beinen und sah mit großen Augen
zu Rubens und zu den Schiffsjungen an der Reling. „Glaubt ihr, ich schaff es
nicht?“
„Ihr habt es bisher
jeden Tag ununterbrochen versucht und nie ist etwas geschehen“, entgegnete
einer der Jungen kleinlaut.
„Ihr glaubt also, man
beschwört Geister an einem einzigen Tag, zwischen Frühstück und Abendessen?
Pah!“ Diesmal war es Nigs, der ins Wasser spuckte. Sein Gesicht wurde rot und
schwoll an. „Ohne die Geister wären wir aufgeschmissen, wir sind viel zu wenige,
um gegen die Elstern anzukommen, also seid leise und lasst mich arbeiten.“ Im
selben Augenblick sahen sie ihn, den Geist hinter der Weinkiste. Er bewegte
sich nicht, sein Gesicht wirkte seltsam starr und doch glaubte Rubens Einar
hinter der unbeweglichen Maske zu erkennen. Der Schiffsjunge, der zu Nigs
gesprochen hatte erbleichte und zeigte zu dem ehemaligen Mondschwingenkönig.
Alles andere passierte
ganz schnell. Geist um Geist wuchs aus den Planken empor, die meisten hatten
die Schwerter schon gezogen, andere hielten Pfeil und Bogen, Äxte oder Säbel.
Es war still auf dem Schiff, jeder der Jäger hielt inne und blickte zu Nigs und
seinen Kindern. Die Stille war so viel lauter als jegliches Schlachtgeschrei.
Zusammen liefen sie los,
schwebten über die Reling und rannten, dorthin, wo die Feinde waren.
TOIVA
und die
untoten Freunde
Toiva stand am Heck des
Schiffes und schaute zu den erstarrten Wellen hinab. Schnee hatte sich schon
auf den Eisschollen angesammelt und glitzerte im tiefstehenden Licht der
untergehenden Sonne.
„Hab ich es nicht
gesagt?“ Raff, der alte Kapitän trat neben Toiva an die Reling heran und
stemmte die Hände in die Hüften. „Der See wird zufrieren. Schneller, als uns
lieb ist. Noch heute Nacht kann es passieren.“
Tatsächlich waren es
schon viele Schollen, je näher sie der Insel kamen, desto mehr schienen es zu
werden.
„Ausgerechnet jetzt.“
Toiva seufzte. Sie hatte das Gefühl, dass alles schief lief, dass sich alles
langsam aber sich zu einer Katastrophe entwickelte, zu einer großen. Sie spürte
es, je näher die Nacht kam.
„Nicht mehr lange und
der letzte Mond verschwindet und dann ist ohnehin alles zu spät. Wenn wir nicht
schnell genug sind …“ Sie sprach nicht weiter, die Stille drückte das Drohende
und Herannahende am besten aus.
Der bärtige Mann lachte,
als hätte sie einen Witz gemacht. „Selbst wenn wir mit unseren Schiffen nicht
mehr weiterkommen, dann können wir das letzte Stück zu Fuß zurücklegen. Weit
über dem Eis, versteht sich.“
„Glaubt Ihr, ich weiß
das nicht?“ Toiva hörte sich kraftlos an, nicht annähernd so ruppig wie sonst.
„Die Sache ist nur die: wenn wir die letzten Meilen – viele werden es sicher
nicht mehr sein – zu Fuß hinter uns bringen, werden wir einiges an Kraft
verlieren. Kraft, die wir nötig haben werden, im letzten Kampf gegen die
Menschen.“
„Im vermutlich letzten Kampf, oder nicht?“ Raff klang seltsam ernst.
„Wenn wir überleben und der letzte Mond nicht verschwindet, wenn wir die Magier
besiegen und mit ihr die Menschenkönigin, dann wird es womöglich noch viele
Kämpfe geben.“
Toiva verdrehte die
Augen. „Wenn, wenn, wenn. Wie Ihr Euch anhört.“ Sie fasste sich an die Stirn
und versuchte die pochenden Kopfschmerzen, die sie schon seit mehreren Tagen
plagten, verschwinden zu lassen. Sie hatte langsam aber sicher genug vom Segeln
und der pfeifenden, rauen Winterluft. „Wie auch
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