Mondtaenzerin
später, als sie zur Arbeit erschien. Sie fand auch die blutbefleckten Hefte auf dem Bett. Don Antonino hat den Schulterknochen an zwei Stellen gebrochen und leidet unter einer starken Gehirnerschütterung. Er ist sehr geschwächt, aber er konnte aussagen. In seiner großen Güte fand er verzeihende Worte; er verzichtet auch auf eine Anzeige. Aber wir suchen den Lümmel. Ob er seine Schulausbildung beenden und Priester werden kann, wird sich zeigen«, sagte Ellison abschließend.
»Alessa!«
Mit zurückgeworfenem Kopf, fast hochmütig, wie jemand, der vor einer Beleidigung zurückfährt, sah Mutter ruckartig zu mir hinüber. Ich wich ihrem Blick aus, der eiskalt war, presste die Hände zwischen meine Knie. »Sag nichts, kein Wort!«, befahl ich mir innerlich. Mutter wandte sich wieder zu dem Polizisten um. Sie versuchte, Ruhe zu bewahren, obgleich ihre Stimme leicht bebte. Dabei kam ein hässlicher, fast verschlagener Ausdruck in ihre Züge.
»Werden Sie die Sache … diskret behandeln?«
»Aber gewiss, selbstverständlich«, sagte der Kommissar verbindlich, und ich wusste, dass ich jetzt unter allen Umständen weder meine Mutter noch ihn ansehen durfte. Nein, Giovanni war kein Täter, Giovanni war das Opfer! Wie hatte er warm und geborgen einschlafen können mit dieser Gefahr,
die ständig im Nebenzimmer lauerte? Das Geheimnis, hinter Mauern verschanzt, durfte um keinen Preis die Öffentlichkeit erreichen. Und es spielte keine Rolle, ob ein Unschuldiger dabei gebrochen und zerstört, zertrampelt und vernichtet wurde. Ja, Giovanni hatte alles vorausgesehen. Er brauchte Hilfe, er brauchte sie so nötig! Doch wer konnte helfen? Peter vielleicht? Ach, Peter würde sich fürchten, sich in sein Schneckenhaus zurückziehen. Nein, Giovanni hatte nur mich. Ich holte tief Atem, bevor ich sehr langsam und vorsichtig die Frage stellte:
»Hat Don Antonino … stark dabei geblutet?«
Ich hatte gesprochen, als ob ich jedes Wort auf die Goldwaage legte. Beide Polizisten starrten mich an. Mir war, als stiegen kleine Blasen in meinem Kopf auf. Jetzt kam das Wesentliche, das Entscheidende. Ich hielt den Atem an, wagte nicht den kleinen Finger zu rühren. Und da – da ging Ellison tatsächlich in die Falle.
»Geblutet? Nein, zum Glück nicht. Er hatte Blutergüsse im Gesicht, aber keine offene Wunde.«
Ich flüsterte wie in Trance, ohne ihn aus den Augen zu lassen: »Aber Sie sagten doch, da lagen Zeitschriften mit Blutflecken. Woher kam denn das Blut, wenn er keine Wunde hatte?«
Ellisons Gesicht wurde starr wie Granit. Auch er hatte plötzlich mehr begriffen, als ihm lieb war. Er bildete Gedanken, die nicht willkürlich, sondern sehr rational waren. Er kämpfte mit sich selbst, doch nur kurz. Er warf einen Blick in eine gigantische, verdammte und gefährliche Welt, spürte ihre glühende Substanz und hastete daran vorbei, bevor er sich die Finger verbrannte.
»Heranwachsende Jungen finden Gefallen an seltsamen Spielen, das kommt häufiger vor, als man denkt.«
»Soll ich das auch notieren?«, fragte Polizeianwärter Goyen, der bisher kaum ein Wort gesagt hatte. Ellison bewegte verneinend die Hand.
»Es war nur eine Randbemerkung.«
Goyen nickte. Und schon verlor die Tatsache an Bedeutung; man brauchte den Worten nicht einmal Luft zu geben. Und da wusste ich, dass alles verloren war. Der Kommissar stellte noch einige Fragen, aber das Wesentliche war gesagt. Er gab das Zeichen zum Aufbruch, der junge Polizist, der nur geschrieben hatte, trank sein Glas Wasser aus und ließ den Notizblock in seiner Tasche verschwinden.
»Und was nun?«, fragte Mutter.
»Oh, wir suchen weiterhin den Jungen. Wir haben so eine Ahnung, wo er stecken könnte.«
»Gut.« Mutter schluckte schwer. »Und wenn mein Portemonnaie bei Ihnen abgegeben wird …«
»Werden wir Sie unverzüglich benachrichtigen«, sagte Polizeianwärter Goyen und ließ die weißen Zähne blitzen. Sie verabschiedeten sich und gingen, und Mutter wischte sich den Schweiß aus der Stirn.
»Du lieber Jesus! Was für eine widerliche Angelegenheit! Bist du von Sinnen, Alessa? Wir hatten dir verboten, den Jungen zu sehen. Findest du das schmeichelhaft, dich von diesem Dreckfink befummeln zu lassen? Schäm dich, Alessa! Und warte nur ab, bis es dein Vater erfährt! Heilige Muttergottes, ich mag nicht daran denken!«
Religiöse Anrufungen kamen üblicherweise nicht aus dem Munde meiner Mutter. Daran erkannte ich, dass ihre Stimmung dicht an Panik grenzte. Und jetzt reagierte
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