Mondtaenzerin
geräumig, denn morgens und abends herrschte hier Gedränge, jeder wollte an die Kaffeemaschine, an den Kühlschrank, holte seine Fertigmahlzeiten, seine Milch. Jeder Ankömmling wurde mit lauten Zurufen begrüßt, jeder tolerierte freundlich die kleinen Macken des Nachbarn. Es gab solche, die nur schnell einen Teebeutel in ein Glas heißes Wasser legten, und andere, die mit Kanne und Zucker den Tee in Gemütsruhe zelebrierten, sich dabei an den Tisch setzten und bereits in ihre Bücher vertieften, sodass andere über ihre Füße stolperten oder ihre Butter und Marmelade unter vielen Entschuldigungen auf die Seite schieben mussten. Es war nicht immer so, dass alle Bewohner zur gleichen Zeit zu Hause waren, folglich wurde immer in kleineren Gruppen gekocht und gegessen. Gelegentlich gab es frisch gebackenen Kuchen oder Lasagne für alle. Die Bewohner studierten an Fachhochschulen so unterschiedliche Fächer wie Architektur, Materialwissenschaften, Medienkunst oder Wirtschaft. Es gab den Medizinstudenten, der täglich seine Dreieinhalb-Minuten-Eier wollte, die zukünftige Ernährungswissenschaftlerin, die sich von Körnern und Biogemüse ernährte. Es gab solche, die akribisch ihr Essen auf dem Herd brutzelten, während die anderen ihre Fertigmahlzeiten in der Mikrowelle erwärmten und die Bierdosen knallen
ließen. Im Gedränge saß friedlich Mattau, ein gewaltiger, behäbiger Kater, der genau wusste, dass er von allen, die in die Küche kamen, zweimal am Tag gestreichelt, gebürstet und gefüttert wurde. Belinda klagte, dass Mattau übermäßig fett dabei wurde, aber sie tat nichts, um dem Kater zu einer schlankeren Linie zu verhelfen, indem sie ihn aus der Küche verbannt hätte.
Die Studenten waren bunt gemischt, exzentrisch und zumeist – falls sie nicht über die Maßen getrunken hatten – gut gelaunt. Es gab auch eine Cellistin, die die Hochschule für Musik besuchte, und zwei Kunststudenten. Diese malten ein Fresko an der großen Backsteinwand, draußen im Garten. Belinda tolerierte das mit amüsiertem Augenzwinkern. Sie war dreißig Jahre älter, wollte dazugehören und – es stimmte schon, dass sie auf besondere Weise dazugehörte, denn alle verehrten sie. Es kamen stets viele Leute zu Besuch. Die Gespräche waren von dieser Art:
»Ich male nur zu Elektropop. Bei voller Lautstärke. Das inspiriert mich.«
»Ziehen wir uns doch alle nackt aus und tanzen im Hof!«
»Kunst ist Revolution.«
»Gewalt ist Revolution.«
»Shakespeare, es geht nichts über Shakespeare. Vor allem seine Frauen. Er war der erste Feminist.«
»Bacon hat alles gespürt, alles, was auf der Welt ist und kommen wird.«
Der Kaufmann von Venedig hatten wir in der Schule gelesen, von Francis Bacon hatte ich nie etwas gehört. Ich kam mir prüde und linkisch vor, meine Mitbewohner schienen mir vorbildlich und erstrebenswert frei. Leben, sich amüsieren und sich ausdrücken waren die einzigen Dinge, die im Augenblick für sie in Frage kamen. Die Studienzeit ist eine Schonzeit. An Geldmitteln fehlte es ihnen offenbar nicht, obwohl manche halbtags in einer Wäscherei oder in einer Pizzeria
jobbten. Mit einigen freundete ich mich an; da war Clea, die Cellistin, die nie Make-up trug und sich nur in Schwarz kleidete, da war Mathieu, der höchstens siebzehn war, blond, nonchalant, mit Haaren bis zu den Hüften, da war Jack, der junge Kritiker, mit seiner Freundin Amanda, die immer zusammen waren wie zwei Wassertropfen, sodass wir sie nur »Jackanda« nannten. Man witzelte, dass sie sogar zusammen aufs Klo gingen. Da war Guillermo, ein Chilene, der Architekt werden wollte, groß, bleich, mit enorm erotischem Blick, der bei jedem unserer Feste stets so betrunken war, dass er sich in einer Ecke zusammenrollte und laut schnarchte. Man konnte ihn auf die Seite schieben, wie man wollte, er wachte nicht auf. Am Morgen schlurfte er beduselt in die Küche, ließ sich hintereinander sieben Kaffee einlaufen und ging dann frisch rasiert und geduscht zum Unterricht, als sei nichts gewesen. Es kamen auch einige Mädchen, die nicht in dem Haus wohnten; die Studenten brachten sie mit, und sie schliefen dann im gleichen Zimmer. Belinda hatte nichts dagegen. Sie erzählte stolz, dass sich bei ihr schon drei Pärchen gefunden hatten. Und jedes Mal war sie zur Hochzeit eingeladen gewesen.
Einen Putzplan gab es in der WG nicht. Eine zu starke Regelung des Zusammenlebens wurde vehement abgelehnt. Aber das klappte meistens. Wer sah, dass etwas gemacht werden
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