Mondtaenzerin
Führerschein hatte. Die Eltern stellten ihr den Wagen dann und wann zur Verfügung. Auf dem Lande nahm man es nicht so genau, es gab wenig Verkehr und kaum jemals eine Kontrolle. ›Machst du einen guten Abschluss, bekommst du deinen eigenen Wagen‹, hatte Willbur versprochen. Es war als Ermutigung gedacht, denn Miranda tat sich im Unterricht schwer. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, nach dem Abitur das St. Martins College of Art and Design zu besuchen, obwohl sie, wie ich heute weiß, nicht die geringste Begabung dafür hatte. Keine Fantasie, nichts. Nur seitenverkehrte Logik im Gehirn. An diesem Tag erlaubte ihr Lavinia nur bis zur Autobahn zu fahren, kaum zwölf Kilometer, ein Katzensprung. Es war ein blauer, leicht dunstiger Tag. Miranda fuhr, Lavinia saß neben ihr. Im Schatten der duftenden Hecken glitten sie durch die liebliche Hügellandschaft. Unter großen, alten Bäumen dehnte sich die Straße in weichen Kurven, schlängelte sich wie ein helles Band von Hügel zu Hügel. Miranda fuhr zunächst langsam und vorsichtig, dann steigerte sie die Geschwindigkeit. Es machte ihr Spaß.
Um sie herum schwankte der strahlende Morgen auf und nieder mit dem plötzlichen Wechsel von Licht und Schatten und dem Aufzucken von Vogelschwärmen. Später, als die Polizei ermittelte, wurde eindeutig bewiesen, dass Miranda viel zu schnell gefahren war. Lavinia hatte ihrer Tochter gewiss gesagt, sie sollte langsamer fahren, aber Miranda musste ihre Warnung nicht beachtet haben. Jedenfalls kam hinter einem Waldstück eine scharfe Kurve.
Miranda nahm die Kurve zu eng, die Räder kreischten, Lavinia sah die Böschung auf sich zukommen, ihre Hände griffen nach vorn, um ihrer Tochter das Lenkrad zu entreißen. Miranda stieß sie mit dem Ellbogen weg. Da waren Augenzeugen, die das gesehen hatten: zwei Arbeiter, die am Abholzen waren und auch gehört hatten, wie Lavinia schrie und Miranda hysterisch lachte. Als die Straße dem Graben entlang wieder gerade wurde, kam das Auto in die richtige Lage zurück. Doch nur für einen kurzen Augenblick.
Dann hörten die Männer, wie die Bremsen kreischten. Der große Plymouth schwankte und kam von der Straße ab, raste die Böschung hinab, auf einen Graben zu, der hart und todbringend näher kam.
Lavinia schrie.
Der Schrei erfüllte mit seiner Angst die lange Straße, von einem Ende bis zum anderen. Für den Bruchteil einer Sekunde war es, als ob der Wagen ohne Schwergewicht frei im Raum schwebte. Dann folgte ein dumpfer Aufprall, ein Krachen, splitterndes Glas. Und danach hüllte ein paar Sekunden lang Stille das Geschehen ein. Aber gleich darauf wurde es gebrochen, als von allen Seiten gerufen wurde. Die Holzfäller waren als Erste zur Stelle. Dann kamen Bauern, die auf dem Feld gearbeitet hatten. Das Auto lag auf der Seite, halb im Wasser. Um den zertrümmerten Plymouth schloss sich bald ein Kreis von Menschen, die alle helfen und die Verunglückten bergen wollten. Beide Frauen waren nicht angeschnallt gewesen,
obwohl Sicherheitsgurte damals schon Pflicht waren. Ein dummes Versagen von Lavinia. Sie war mit dem Kopf durch die Windschutzscheibe gestoßen, hing im zersplitterten Glas wie eine Puppe mit weichen Gliedern. Ihr Schädel war eingedrückt, ihr Brustkorb und ihr Becken gebrochen. Miranda, das Gesicht mit Blut überströmt, schien nicht wahrzunehmen, was um sie herum geschah, reagierte kaum, als man sie behutsam aus dem Wagen hob. Auch eine Polizeistreife kam, stoppte den Verkehr, hielt die Neugierigen von der Unfallstelle fern. Für Lavinia kam jede Hilfe zu spät. Die Halsschlagader war geplatzt, sie erstickte in ihrem eigenen Blut. Sie lag schon im Koma, als das Rettungsauto sie mit heulenden Sirenen zum Krankenhaus brachte. Miranda hatte die Hüfte und zwei Halswirbel gebrochen und musste eine Zeit lang eine Halskrause tragen. Als der Arzt ihr im Krankenhaus eine Blutprobe entnahm, stellte man fest, dass sie außer Alkohol eine hohe Dosis Kokain im Körper hatte. Es war ein verhängnisvoller Fehler von Lavinia gewesen, dass sie ihrer Tochter erlaubt hatte, den Wagen zu fahren. Aber als Willbur wissen wollte, was geschehen war, leugnete Miranda alles, schwor unter Tränen, dass sie nur ganz wenig Alkohol zu sich genommen hatte. Und Drogen? Nein, niemals! Nur zwei Schlaftabletten. Und nicht sie war es gewesen, sondern Lavinia, die am Steuer saß. Miranda blieb bei ihrer Behauptung, so unglaubwürdig diese auch war, wo doch alle Dienstboten beim Abschied gesehen hatten, dass
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