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Mondtaenzerin

Mondtaenzerin

Titel: Mondtaenzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederica de Cesco
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weiter auseinandergerückt. Diese Klarheit entstand überall auf der Insel, ohne Zusammenhang, aber offenbar nach demselben Gesetz. Das Flachland und alle Hänge waren ausgetrocknet, die Bäume verdurstet, die Klage der Zikaden erfüllte die Luft, die nach Wärme und Thymian duftete. Aber die Hitze brütete nur in der Mittagszeit, und bereits am Nachmittag kam Wind auf und brachte Abkühlung in großen, unsichtbaren Kreisen.
    Es war an einem solchen Nachmittag, als ich die Haustür aufstieß und müde die Treppe hinaufstieg. Das Haus hatte nur zwei Stockwerke, einen Aufzug gab es nicht.
    Ich hatte meine Gruppe zu den Schwesterstädten Rabat und Mdina geführt, hatte ihnen die barocken Klosterkapellen erklärt, die wuchtigen Patrizierhäuser. Droschken warteten im staubigen Schatten der Platanen. Vor der St.-Pauls-Kirche stauten sich andere Gruppen, der Marmorboden, unter dem die Gebeine vieler Bischöfe ruhten, war stumpf, die Goldinschriften verblasst. Wir waren durch die gewundenen Straßen gewandert, mit ihren verborgenen Gärten hinter den hohen Mauern. Die alte Pracht war mit den schwingenden Kirchenglocken
erwacht, die Geschichte lief mit dem heißen Wind neben uns her, und ich dachte über den Traum der Vergangenheit nach. Vielleicht konnten das meine Leute fühlen, denn alle waren zufrieden. Für mich aber war es ein langer Tag gewesen.
    Jetzt konnte ich nicht mehr. Teilnahmslos schleppte ich mich die Stufen hoch, freute mich auf die heiße Dusche, auf die Couch, wo ich meine Beine ausstrecken und die Zeitung lesen konnte, als ein besonderer Geruch meine Nerven plötzlich erschauern ließ. Im Bruchteil eines Atemzuges wurde ich hellwach; mir war, als ob sich jede einzelne Pore fröstelnd zusammenzog. Und schlagartig überkam mich ein Gefühl für die Materie, aus der die Dinge gemacht sind. Ich fühlte, über ein genaues Erkennen hinaus, den Granit der Treppe unter meinen Füßen, sah die Streifen von Licht und Schatten, die eine schräge Sonne an die hellen Wände warf. Es war, als ob etwas in mir erwacht war und auf der Lauer lag, ähnlich wie Kenza, wenn sie einen Vogel auf dem Balkon erspähte und in straffer Bereitschaft erstarrte. Einen Augenblick lang verlor ich, während ich mich langsam vorwärtsbewegte, den Kontakt zu dem, was wir Wirklichkeit nennen; es war eine Art unsichtbare Strömung, die mich trug, und sie hing mit dem Geruch zusammen, den ich mit jeden Schritt deutlicher wahrnahm: ein Geruch nach Sand, nach warmer, verschwitzter Haut. Es war ein Geruch, der aus irgendeiner Ferne kam, ein Geruch aber, den ich kannte. Ich ging die letzte Drehung der Stufen empor, und da sah ich den Mann, der mit dem Rücken an meiner Wohnungstür saß. Er hatte den Kopf auf den Arm gelegt und schien zu schlafen; safrangelbes Licht hüllte ihn ein, ich sah ihn zunächst nur als Umriss, als ruhende Form, wie eine dunkle Skulptur vor der hellen Tür. Doch ich wusste, wer er war, und zitterte am ganzen Körper. Schweiß brannte auf meiner Haut, meine Kehle schnürte sich zusammen. Ich tat einen letzten Schritt, da erwachte der Mann, rührte sich, hob den Kopf. Seine Schulterpartie hob sich im Gegenlicht von dem
Hintergrund ab, auf der anderen Seite zeichnete sich, ebenso breit und abgerundet, seine Schulter ab. Ein paar Atemzüge lang starrten wir uns an. Ich fand als Erste meine Sprache wieder, sie klang wie die einer Fremden, so leise und rau und fern.
    »Giovanni!«
    Er erhob sich mit einer schnellen, gleitenden Bewegung. Mein erster Gedanke war, wie groß er geworden war! Er sagte zunächst kein Wort, doch ich hörte ihn atmen. Er kam auf mich zu, oder ging ich ihm entgegen? Wenige Schritte nur, die hinausführten aus den Jahren, aus dem Dunkel der Erinnerungen. Ja, es war Giovanni, aber war er es wirklich? Ich erkannte die Brauen – die linke mit dem weißen Flaum –, das etwas flache Profil, die geschwungenen Lippen. Die dichten schwarzen Wimpern bedeckten seine Pupillen, die aus dem Licht hervorglänzten, große Pupillen, von einem fast violetten Schwarz. Seine Augen waren leicht zu den Schläfen hingezogen, wie Antilopenaugen, seltsam feminin in diesem mageren Gesicht mit den hohlen Wangen, dem festen Kinn. Sein kurzgeschorenes Haar und seine Haut strömten den Geruch von früher aus, nur dass er jetzt viel brauner war als einst, gegerbt von Jahren in der Sonne. Er trug Jeans und ein ärmelloses T-Shirt. Verwaschen und farblos schien es eng mit seiner Haut verwachsen zu sein. Zuerst hatte ich die absurde

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