Mondtaenzerin
denken. Sein Elternhaus war ihm verhasst. Der Schmutz, die Unordnung, die schlechten Gerüche, das Geschrei. Giovannis Vater verprügelte seine Frau, bis sie zu Boden fiel. Oft schlug er auch seine Söhne, aber die schlugen zurück. Der einzige Mensch, vor dem Emilio Respekt hatte, war Marietta, seine eigene Mutter. Aber diese, schon über neunzig, verlor das Gedächtnis, hatte kaum noch Zähne im Mund und sabberte in ihre Suppe. Bianca und Angelina, die Schwestern, verschwanden manchmal für einige Zeit, und bald danach gab es trübe Dinge und Geheimnisse, die sie in schmutziges Zeitungspapier wickelten und im Hof eingruben. Und nachts huschten Ratten hervor und wühlten im Unrat, die Hunde rissen an der Kette und bellten, und alle Hunde in der Nachbarschaft auch. Die Brüder gingen zu den Huren und erzählten Giovanni, was sie dort gemacht hatten. Giovanni lief weg, wenn sie angeschossene Hasen bei lebendigem Leib häuteten. Ihm wurde schlecht, wenn ein Schwein geschlachtet wurde und er den Eimer halten sollte, in dem das schrecklich schreiende Tier verblutete. Er ertrug es nicht, dass man kleine Katzen ersäufte, dass die Esel und die beiden Haushunde Trauben von Fliegen auf schwärenden Wunden trugen. Der Vater schlug ihn, die älteren Schwestern schlugen ihn. Enrico, der nächstältere Bruder, den alle »Mimmo«
nannten, war ein Tölpel mit dem Gehirn eines Sechsjährigen. Er hatte schamlose Dinge von Giovanni gefordert. Als er sich wehrte, schlug Mimmo zu. Giovanni blutete eine Zeit lang aus der Nase und war auf einem Ohr ganz taub. Die Mutter schwieg; sie stellte ihre Wahrnehmung auf Sparflamme, und die war nahezu erloschen. Sie hatte tiefe Schatten unter den Augen, und ihre blassen Lippen waren nur noch ein Strich. Sie putzte und kochte, als ob sie im Stehen schlief. Nichts sagen, nichts hören und bloß keine Prügel mehr beziehen. Von ihr war kein Beistand zu erwarten. Nur die Großmutter nahm ihn in Schutz. Sie erlaubte Giovanni, bei ihr im Bett zu schlafen. Mimmo wagte sich nicht in ihr Zimmer, weil Großmutter ihn mit Schmähungen überschüttete oder ihm einen Schuh an den Kopf warf. Eingewickelt in ihr Bettzeug, das scharf nach altem Schweiß roch, schlief Giovanni fest und tief, die Augen gegen die Welt um sich herum verschlossen. Verschmutzte Großmutter nachts ihr Bett, wachte Giovanni auf und machte pflichtbewusst alles sauber. Er half Großmutter auch beim Ankleiden, wusch ihr das Gesicht und kämmte sie, bevor er sie an den Tisch führte, ihr den morgendlichen Milchkaffee brachte und danach ihr Geschirr wegräumte. Einst war Großmutter groß und stattlich gewesen, daran erinnerte er sich noch gut, aber jetzt hatte er den Eindruck, dass sie einschrumpfte und mit jedem Tag dünner wurde. Sie beobachtete ihre Umgebung aus wässrigen Augen und erzählte oft sinnloses Zeug. Giovanni machte sich Sorgen.
Ich hörte zu, verblüfft und einigermaßen angeekelt, wobei ich eine Ahnung von dem bekam, was die Erwachsenen unter »schlechten Verhältnissen« verstanden. Giovanni lebte in einer Welt außerhalb meiner Welt, die ganz geregelter Tagesplan, Seife, Hygiene und gute Manieren war. Gewiss hatte Mutter eine rasche Hand, gelegentlich holte ich mir eine verdiente Ohrfeige, und das war’s dann auch schon. Giovannis trauriges Dasein ging bejammernswert weit an meinem Begriffsvermögen
vorbei. Aber Chaos zog mich möglicherweise an. Und Giovanni konnte ja nichts dafür. Wurde sein hin und her gestoßenes Herz durch zu viele unnennbare Empfindungen verwirrt, zog er sich in sich selbst zurück. Als wäre ihm ein Mittel eingeflößt worden, das seinen ganzen Stoffwechsel verlangsamte. Er atmete flach, sprach leise, bewegte sich wie ein Mondsüchtiger. Das machte ihn in meinen Augen noch interessanter. Darüber hinaus hatte der Onkel dafür gesorgt, dass er eine gute Schule besuchte. Der Unterricht war kostenlos, aber Giovanni brauchte eine Schuluniform, Hefte und Schulbücher. Der Vater, dieser Geizhals, ließ für Schulbücher kein Geld springen. Don Antonino zahlte aus seiner Tasche. Und jeden Sonntag nach dem Gottesdienst bekam Giovanni im Pfarrhaus das Mittagessen an einem weiß gedeckten Tisch. Tagelang freute er sich auf diesen Augenblick. Er war immer hungrig, denn zu Hause bekam er nur das, was die Brüder übrig ließen, meistens nicht viel. Den Schwestern machte das nichts aus, sie halfen in der Küche und bedienten sich reichlich aus den Kochtöpfen, bevor sie das Essen auftrugen.
Nach dem
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