Mondtaenzerin
an ihnen nehmen.«
Vivi verzog angewidert die Lippen.
»Solche Malereien finde ich überhaupt nicht schön! Und die Puppe darfst du nicht weggeben, das ist ganz verkehrt. Persea wird sehr böse sein.«
Was Vivi sich ausdachte, wenn sie ihre Anfälle hatte, durfte man nicht so genau nehmen. Aber Giovanni sah elend aus, und wir brauchten dringend eine Lösung.
»Du musst sie irgendwo verstecken«, schlug Peter vor.
»Ja, aber wo?«
Am Ende hatte ich die beste Idee. Giovanni sollte mir die Figur geben, ich würde sie in meinem Zimmer verstecken. Giovanni fiel offensichtlich ein Stein vom Herzen. Sogar Vivi hatte nichts dagegen einzuwenden: Die Figur gehörte ja immer noch Giovanni. Jedenfalls ging ich mit der heiligen Puppe nach Hause, wickelte sie in ein Taschentuch ein und steckte sie ganz unbekümmert in die Schublade meiner Kommode, zu den Schlüpfern und Socken. Aber abends, bevor ich einschlief, nahm ich sie manchmal aus der Schublade, um sie zu betrachten. Mir schien, dass ich danach besser und tiefer schlief und schöne, leuchtende Träume hatte. Aber das bildete ich mir vermutlich nur ein. Die Erinnerungen verwirren sich, wir verwandeln die Wirklichkeit, wie es uns gefällt. Die kleine Schlafende war für mich die Kunst, die Schönheit und das Geheimnis gleichermaßen. Aus der eleganten, liebevoll geformten Figur strömte eine ganz ungewöhnliche Kraft, eine Freude, die allen Dingen einen andersartigen Zauber verlieh. Und eine Zeit lang ging alles gut. Giovanni sahen wir nicht jeden Tag – er kam erst später in unsere Klasse, aber wir trafen ihn nach der Schule; es war einfach so, dass er dazugehörte. Wir hatten keine Ahnung, wie es zustande kam, aber in uns war etwas, das ohne ihn nicht mehr sein konnte. Der Junge
mit dem seltsamen Merkmal im Gesicht – dieser weiße, flügelartige Flaumstreifen – war nur für uns da. Früher hatten wir uns auch mit anderen Kindern angefreundet, jetzt erschienen uns diese Kinder nur ein dürftiger, schattenhafter Ersatz. Sie langweilten uns. Erst, wenn Giovanni dabei war, waren wir richtig zufrieden. Wir vermochten das nicht in Worten auszudrücken, vielleicht konnte man das auch gar nicht. Wunderbar passte Giovanni in die wilde Landschaft unserer Kindheit. Der Zauber, der von ihm ausging, zeigte sich tiefgründig in der Art und Weise, wie er zu uns sprach und wie wir ihm antworteten. Man spürte, dass er das, was er sagte, lange im Voraus überlegt hatte. Er ging immer ein paar Schritte voraus, als ob er eigensinnig ein Ziel verfolgte – dabei hatte er keines –, und wir trabten gehorsam hinterher. Darüber, dass uns so viel an dem Zusammensein mit ihm lag, machten wir uns wenig Gedanken. Man kam immer sehr leicht mit ihm aus. Und es hatte auch nichts mit Liebe zu tun. Obwohl vielleicht … – aber das kam später. Vorerst erlebten wir nur das Zusammensein mit ihm, bevor wir das Sinnliche bewusst zu empfinden begannen.
Was Giovanni mir bedeutete, merkte ich, als ich, unmittelbar nachdem ich ihn kennengelernt hatte, von ihm zu träumen begann, so wie ich früher von den Helden aus Geschichten und Büchern geträumt hatte. Die heftige Zuneigung, die ich für ihn empfand, war wohl seinen eigenen Gefühlen nachgebildet. Ich verstand immer genau, was er meinte, die anderen zwar auch, aber nie so schnell. Zwischen uns gab es Erinnerungen, zweifelsohne, und darunter waren einige, die ich seit langer, langer Zeit hatte. Tomaso? Dann und wann kam der Name in mein Gedächtnis zurück. Aber dachte ich an Tomaso, so war es Giovannis Gesicht, das ich sah. Und heute ist Tomaso ganz verschwunden. Wenn ich zurückblicke, sehe ich überall nur Giovanni.
Ich denke, dass mein Kindheitsbedürfnis, meinen Zwilling zu finden, nicht narzisstisch im üblichen Sinn war. Es ging um
eine Ähnlichkeit, die nach Ganzheit strebte. Eine verpasste Gelegenheit also. Aber ist dieses Verlangen nach dem Ganzen nicht die Grundlage jeglicher Liebe? In Giovanni mussten ähnliche Bedürfnisse im Spiel sein, Bedürfnisse, die er noch weniger erkannte als ich. So war es auch nicht weiter erstaunlich, dass er sich zu mir am meisten hingezogen fühlte, dass er mir Dinge erzählte, die er den anderen verschwieg. Möglicherweise auch, weil Peter und Vivi sich nicht sonderlich dafür interessierten. Beide lebten in der komplizierten, entstellten Welt der Erwachsenen, die Sorgen anderer noch dazu, das war einfach zu viel. Giovanni sah das wohl ein. Aber er hatte oft das Bedürfnis zu reden oder laut zu
Weitere Kostenlose Bücher