Mondtaenzerin
vertrockneten Hände oder Finger, eingefasst in massives Silber, mit Edelsteinen geschmückt. In Giovannis Kopf stellten sich Assoziationen ein. Er entsann sich des Knochenhauses in Hal Saflieni, der einst empfundenen Ehrfurcht, des Gefühls, dass die Toten noch sehende Augen hatten, noch lauschende Ohren. Die Skelette waren nicht böse, sie trugen Schmuck, sie sprachen ihre Sprache, die ein Kind verstehen konnte, sie machten sogar Geschenke. Gewiss, auch diese Knochen hier waren geheiligt. Aber man hatte sie von der Erde getrennt, sie hatten keine Erinnerungen mehr, keine Träume, keine Stimmen. Wenn Giovanni je ein Gefühl dafür gehabt hatte, das Gefühl war jetzt dahin, so sicher wie seine Kindheit dahin war. Das war der große Unterschied: Die Knochen in ihren silbernen Behältern waren ebenso tot wie die alten Spinnweben und die vertrockneten Nachtfalter in den
Ecken der Sakristei, in der es nach welken Blumen roch, nach muffigen Gewändern. Die Spitzendecken, erhabene Stickwerke müßig eingeschlossener Nonnen, waren vergilbt und zerschlissen, die Ornamente verblassten, Rot war Rosa geworden, Blau zu Hellgrau, die Gold- und Silberfäden zerbröckelten zu ganz feinem Staub. Giovannis Herz füllte sich mit Schwere. Vielleicht konnten keine Wunder mehr geschehen, weil zu viel Glaube gefordert wurde ohne die Gewissheit eines lauschenden Ohrs? Giovanni dachte oft an die Märtyrer auf den düsteren Gemälden alter Meister. Sie waren früher Visionen für ihn gewesen, ein geistiges Erbe in sichtbarer Form: Menschen waren für etwas gestorben, das ihnen wichtiger war als das Leben. Nun stellte er sich zunehmend die Frage, ob es sich wirklich für sie gelohnt hatte. Oder ob sie nur Opfer gewesen waren für etwas, das viel versprach und am Ende nichts gab? Wenn Giovanni die Kirche verließ, glänzte der Tag wie ein wasserklarer Edelstein. Blumen und Bäume leuchteten mit ihrer Üppigkeit des Blühens, viele, viele Vögel flatterten umher, und in der Ferne schimmerte tiefblau das lebendige Meer. Giovanni kam aus dem Düsteren, dem Farblosen; jetzt stürzte das Licht auf ihn herab, und Giovanni war es, als ob er Flügel hätte, höher schwebte, der Sonne entgegen. Und er dachte, sie könnte es gewesen sein, die die Erde und alles Leben erschaffen hatte. Er spürte eine Heiligkeit in der Luft, wie er sie in der Kirche nicht empfunden hatte. Er brauchte nur im Licht zu stehen, auf die Schwingungen der Natur zu achten, auf ihre Berührung, um sich wiedergeboren und gesegnet zu fühlen, gereinigt von Schwärze, Moder und Staub. Er freute sich, lebendig und jung zu sein, mit gesunden starken Gliedern und wachem Verstand. Er fühlte in sich den Drang, alle Kleider von sich zu werfen und sich nackt dem lauen Wind zu überlassen. Vielleicht, dachte er, weil die Schöpfung Gottes Werk ist? Und alle Kirchen mit ihrem Prunk nur Menschenwerk?
Doch er wusste, es war nicht gut, solche Gedanken seinem
Onkel mitzuteilen. Ach, wann hatte er begonnen zu zweifeln? Es mochte gewesen sein, als seine Mutter umgebracht wurde und Don Antonino die Lüge nicht durchschaut oder sich aus irgendeinem Grund damit abgefunden hatte. Der Verdacht war allerdings abscheulich und quälte Giovanni sehr. Er fühlte sich undankbar und gemein. Giovanni wollte lernen, sein Onkel ermöglichte es ihm; jeden Tag wurden ihm die vollen Teller vorgesetzt – die vollen Teller der Mahlzeiten und die vollen Teller des Glaubens. Giovanni war ein bisschen sensibler als andere Kinder, und deshalb überstand er dieses Bewusstwerden schlechter als andere Kinder. Don Antonino hatte ihm auch erklärt, warum er sich geißelte. Weil Jesus ununterbrochen, in jedem Moment der Ewigkeit, ans Kreuz geschlagen wurde und Don Antonino seine Leiden mitempfinden wollte.
Er tat es immer wieder, hatte er Giovanni gesagt, sobald die Wunden, die er sich zufügte, verheilten. Giovanni hatte versucht zu verstehen, hatte es aus ganzem Herzen versucht, bis ihm klar wurde, dass sein Onkel unter einer Art bösartiger Krankheit litt, dass er sich nicht Schmerzen zufügte, um mit Jesus zu leiden, sondern weil er in einen Kampf mit sich selbst verwickelt war. Giovanni ahnte, dass sein Onkel gegen das Böse kämpfte, das in ihm selbst war, in seinem Fleisch, in seinem Blut. Giovanni verfügte über viel Mitleid, aber auch über einen gesunden Verstand. Und zudem hatte er eine innere Unbekümmertheit, fast eine Art Stoizismus. Noch mochte er kindlich wirken, aber in Wirklichkeit ruhte er fest in sich
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