Monica Cantieni
hatten Flecken. Kein Wunder: Toni pulte die Bilder ungeduldig aus den Fotoecken und ging mit ihnen herum, kam wieder her, zeigte mit dem Finger auf alles, was drauf war, auch auf alles, was alles nicht drauf war, was davorstand und dahinter, was anders ist, was nicht mehr ist, zum Beispiel Verwandte oder Farbe. Die Beschreibung von Farben auf schwarzweißen Bildern war ihm besonders wichtig.
Giallo: Das Gelb des Abendlichts, das nichts mit dem Gelb auf dem Foto zu tun hat, das in Wirklichkeit ganz aus Gold ist. Oro, das in Italienisch wie in Spanisch dasselbe ist und trotzdem unvergleichlich. Dieses Gold ist kein internationales, es ist ein persönliches, es ist eine Angelegenheit des Herzens. Man verzeiht ihm auch, dass es tagsüber brennt, dass es die Landschaft zum Kochen bringt, die Luft zum Zittern, dass sie siedend heiß ist und sich über Mittag alle schlafen legen: die Italiener, die italienischen Hunde, die italienischen Katzen, die italienischen Fliegen, der Markt, die einheimischen und eingewanderten Bäume, der Wind, der aus Afrika kommt, so heiß, dass alle Siesta machen, Ferien für ein paar Stunden, und man hört bloß die Ventilatoren und die Idioten aus dem vergitterten Krankenhaus, hinter dem die Tomaten stehen, bis der Himmel anfängt, nichts als Blau über dem Grün und dem Rot. Die Luft, sagte Toni, wird erst am Abend ruhiger und bringt wieder Wind aus Afrika, vermutlich aus einer anderen Ecke, denn der weckt die Italiener und treibt sie in die Küche, auf die Dächer und auf den Markt, zur Arbeit und in die Kirche.
Blu: Er holte eine Tomatendose aus der Küche, hatte viele davon, seit er sie im Einkaufszentrum entdeckt hatte. Das Blau auf dem Etikett, schwor er, ein Blau wie zu Hause am Himmel. Und an den Zweigen der Tomaten das Grün, das den Geruc h – schwitzt?
– Ausschwitzt.
– … den Geruch ausschwitzt, an dem man die Pflücker erkennt: verde.
Toni konnte Grün riechen. Grün roch bitter.
– Wie das Ende einen Gurke?
– Mehr noch wie ein Gewürz.
– Und wenn die Sonne fort ist?
– In der Nacht das Weiß vom Käse. Mozzarella . Vollmond im Teller und Zikadenlärm.
Wie lange wir wohl schon bei Toni saßen? Er hatte eine Weile nichts gesagt, wir knabberten Sonnenblumenkerne, und er schaufelte die salzigen Hülsen zu einem großen Haufen. Der Krug Wasser war leer. Hin und wieder sah er meine Mutter an. Und ich Toni.
Wie klein die Fotos waren, wie glatt. Als er sie zurück ins Album klemmte, war ich erstaunt, dass sie nicht singen konnten, dass sie nicht rauschten, nicht hupten, nicht lachten, summten oder knatterten, dass da keiner schlief und keiner rannte, dass die Bilder nicht die Luft verpesteten und nicht rochen, außer nach dem Schrank, in dem sie lagen, und nach Zitrone wie Toni. Wenn ich so alt sein würde wie Toni, wollte ich auch nach Zitrone riechen und Locken haben und hellblaue Hemden tragen, mit denen ich aussehen würde wie ein Filmstar, und zwar die ganze Woche über, nicht bloß am Sonntag. Das hatte ich mir fest vorgenommen.
– Du fährst weg?
Meine Mutter deutete auf den riesigen Koffer und die drei Kartons, die bereitstanden.
– Ja. Morgen schon. Viel früher als geplant. Meiner Mutter geht es nicht gut. Gar nicht gut.
– Ach.
– Und ich muss sehen, wie es mit dem Haus vorwärtsgeht.
– Ein Haus?
Das interessierte meine Mutter sehr. Sie bekam endlich wieder etwas Farbe. Meine Mutter fand Häuser bauen großartig. Häuser kamen in Mode.
– Ja, das meines Bruders. Er arbeitet in Deutschland. Will nach Hause. Irgendwann.
– Und du?
Er zuckte mit den Schultern.
– Bin ich hier, will ich zurück. Bin ich in Italien, will ich hierher zurück. Das ist noch nicht lange so.
Das geblümte Kleid stand meiner Mutter hervorragend. Rote und rosarote große Blumen auf weißem Grund. Ihr Haar hatte sie sich gestern von Madame Jelisaweta frisch schneiden lassen, und jetzt, wo sie noch etwas mehr Farbe bekam und sie ein bisschen lächelte, sah sie aus wie aus einer Werbung für Zahnpasta, Haarshampoo, Lippenstift, Hautcreme, Parfüm und Mode. Blinzeln, sagte Tat, einmal blinzeln, und wenn ich Glück hatte, würde das Bild im Kopf bleiben für immer.
– Spaghetti?
Ich nickte.
– Dann Verstecken spielen.
– Bis unters Bett?
– Bis unters Bett. Aber erst muss ich telefonieren. Es dauert nicht lang.
Seit Toni in der Schweiz arbeitete, hatte er entsetzlich hohe Telefonrechnungen, in San Marzano rauchten die Leitungen über den Tomaten und
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