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Monica Cantieni

Monica Cantieni

Titel: Monica Cantieni Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Grünschnabel
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noch nicht einmal die Pubertät ausgebrochen, vor der sich meine Mutter so fürchtete wie vor großen Rechnungen.
    Dass ich allen auf die Nerven ging, hatte ich von meiner Mutter. Das nennt sich Sozialisierung . Die fängt jetzt an, greift endlich, sagten Ruth und Walter. Sie beruhigten meine Mutter, dass es zur Pubertät noch eine Weile hin ist, aber meine Mutter ließ sich nicht beruhigen, sie weinte am Küchentisch, schlimmer als bei jedem Himmelelend.
    – Bist du komplett verrückt geworden? Weißt du, dass man Imeldas Kopf mit neun Stichen nähen musste? Mit einer Schaufel zuzuschlage n – was fällt dir ein? Weshalb mit einer Schaufel?
    – Sie kam mir blöd.
    – Ich komm dir auch gleich blöd.
    Sie schoss auf und fasste sich an den Kopf und fragte sich, wo denn mein Vater bleibt, dass der auch ein Wort sagt zu Imelda, die im Moment gar nichts sagt und bloß bleich ist mit Glatze und im Krankenhaus liegt wegen dem wunden Kopf.
    Ich hätte ihr jetzt seitenweise aus dem Lexikon der guten Gründe vorlesen können, an dem Tat und ich jeden Sonntag weiterschrieben und mit THEMEN und ARGUMENTEN füllten, aber meine Mutter sah nicht aus, als hätte sie auch nur ein Wort hören wollen. Obwohl schon über tausend Seiten stark, hätte sie es einfach in der Luft zerrissen. Mit ihrem Mundwerk hat sie die Kraft von zehn Abrissbirnen, sagte Eli.
    – Wir fahren jetzt ins Krankenhaus, und du entschuldigst dich.
    – Ich kann nicht.
    – Und wie du kannst!
    Alles Haar war ab, Imelda war kahler als Fast-ohne-Federn. Am Schädel pochte es, als wollte etwas hinaus, in der zusammengezogenen Haut der Naht spannte ein schwarzer Faden.
    Schlurfen, Flüstern, als wir kamen. Der Vorhang wurde ein Stück aufgezogen. Ich hätte mich entschuldigen sollen.
    Ich konnte es nicht.
    Imelda schlief nach der Operation, sie schlief tief, schlief länger, als es ihrer Mutter lieb war, in der Hand hielt sie ein blutiges Tuch. Und wenn ich schon den Mund nicht aufmachen wollte, lag ihr doch so allerhand auf der Zunge. Sie wollte reden. Über Imeldas Kopf und das Loch darin und darüber, dass sie schon wüsste, was mit mir zu tun sei. Sie hielt meiner Mutter das blutige Tuch hin, sagte, wir sollten uns das ansehen, genau ansehen, dann sollten wir verschwinden, und ich sollte zum Teufel gehen oder noch besser: dahin zurück, von wo ich gekommen wäre. Meiner Mutter wünschte sie mit mir viel Glück und warf uns das Tuch hinterher. Die ganze Fahrt über faltete sie es immer wieder neu, in immer kleinere Quadrate, sie sah aus dem Fenster, ohne ein Wort zu sagen, legte es zu Hause auf den Küchentisch und brüllte:
    – Hinsetzen!
    Wir rührten uns nicht mehr vom Fleck, bis mein Vater kam. Er sah erst das Tuch auf dem Tisch an, dann uns.
    – Was ist das denn?
    – Deine Tochter hat sich geprügelt. Nein, eigentlich hat sie sich nicht einmal geprügelt, sie hat zugeschlagen. Mit einer Schaufel. Sie hat mit einer Schaufel Imelda fast den Schädel gespalten. Sie liegt im Krankenhaus.
    – Und?
    – Und? Sie schläft, sie ist bewusstlos, keine Ahnung. Sie rufen nicht an, ihre Mutter hat uns rausgeworfen.
    Ich verkroch mich unter den Küchentisch und hörte meine Mutter sagen:
    – Sie hat uns rausgeworfen, weil es die Kleine noch nicht einmal für nötig hält, sich zu entschuldigen.
    Mein Vater ging im Laufschritt auf und ab, ab und an machte er halt und nahm einen Schluck Bier. Er bückte sich.
    – Du entschuldigst dich!, schrie er. Und setz dich an den Tisch wie anständige Leute.
    Ich schwieg und setzte mich hin.
    – Neun Stiche, sagte meine Mutter.
    – Aber sie habe n –
    – Jetzt keine Geschichten.
    – Neun Stiche, sagte meine Mutter. Neun. Die Brille ist auch hin.
    Schon die ganze Zeit über befummelte ich das rissige Glas. Bloß noch die Schritte meines Vaters waren zu hören, das Zischen der Bierflasche, das Zischen der nächsten, Deckel, die zu Boden fielen, auf den Kacheln eierten, das Glas, das in sternförmigen Splittern ganz aus der Brillenfassung knackte, und die Ohrfeige, die aus dem Nichts kam. Ich fiel vom Stuhl, vor meinen Augen bunte Farbkleckse, der Lärm gestochen scharf.
    – Verschwinde. Geh jetzt einfach.
    Das Bett. Der Tisch. Wörterschachteln. Das Regal. Bücher. Wörterschachteln. Die Straße. Ihr Licht. Die Lampe, ihr Licht. Licht aus.
    Eine Schaufel im Kopf. Imelda. Und Naturkatastrophe.
    Über eine Schatzkarte gebeugt, male ich mir aus, was alles in der Truhe drin ist, die ich mit Braun und Gelb gezeichnet habe. Weil

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