Monica Cantieni
er, erzählte Madame Jelisaweta, tote und lebendige.
Mir sausten die Ohren.
– Und dein Onkel Jernej?
– Er kam nie zurück. Ist ein Fisch jetzt. Ist viele Fische.
Sie warf die Olivenkerne in ihrer Hand weg.
– Was sagt die Uhr?
Vom Fenster aus konnte man die Kirchturmuhr sehen, wenn man sich hinauslehnte, aber das war bei Madame Jelisawetas Laden nicht weiter gefährlich. Stellte man sich richtig hin, konnte man unter die Röcke von Frauen sehen. Es war mit ein Grund, weshalb Madame Jelisawetas Frisiersalon ein Geheimtipp unter den Herrensalons war und ein Muss als Frauensalon. Ich kniff die Augen zusammen.
– Kurz vor zwei.
– Dann musst du gehen. Ich hab gleich Kundschaft. Ich schreibe den Titel und den ersten Satz hin.
›Meine Ferien am Meer‹
Erst sieht man es mit der Nase . …
– Jetzt du.
Zu Hause machte ich eine Wörterschachtel MEER und legte Seegang, Seeigel, Seegras, Seestern als Erstes hinein. Ich füllte die Badewanne, kippte zwei Kilo Salz dazu, blaues Schaumbad, blies meinen Schwimmring auf und setzte mich in den Kleidern ins Wasser. Ein Sturm zog auf. Und was für einer. Ein Wind wie bei einem Föhnsturm auf dem Walensee, mindestens; die Wellen grau wie zerriebener Stein, groß und größer werdend. Wände eigentlich, dunkle Wände, schwarze. Wellen, die nicht wissen, wohin, wütend gehen sie aufs Schiff los. Höhere Wellen, als Madame Jelisaweta sie beschrieben hatte, größere, als sie sich vorstellen konnte. Wellenhäuser, Wellentürme, Wellenberge, die alles auf den Kopf stellen, die schäumen und lärmen, den Himmel ins Wasser ziehen, die Wolken salzen, Himmel und Hölle bewegen, einem den Kopf verdrehen und Wörter schütteln, bis sie brechen: Wellenberge splittern, sind Bellerwegen , Webengrellen , sind Rebellenweg und Leblernweg , sind Treibgut; alles ist Treibgut, alles wird herumgeworfen: der Himmel, das Wasser, das Schiff. Es regnet Kisten und tote Fische aus dem Frachtraum.
Meine Mutter zog mich an den Haaren aus dem Wasser, ich war gerade Madame Jelisawetas Bruder, der schreiend und prustend über Bord gegangen war und in letzter Minute den Rettungsring zu fassen bekam. Die Haie waren mir schon gefährlich nahe gekommen. Böse Haie, hungrige.
– Das halbe Bad hat unter Wasser gestanden, sagte meine Mutter am Küchentisch.
– Hast du den Aufsatz geschrieben?
Ich schüttelte bloß den Kopf, mein Vater sah müde aus.
– Ab mit dir.
Ich gab drei Seiten ›Meine Ferien am Meer‹ ab. Der Lehrer war beeindruckt, auch wenn ich das Thema nicht ganz erfasst hatte, wie er sagte. Für seinen Geschmack waren auf den drei Seiten eindeutig zu viele Leute gestorben, die Stadt, die es auf Seite eins noch gegeben hatte, war fortgespült, und am Schluss hatte nur ein Seestern überlebt. Das fand er besonders traurig. Er sah mich eine Weile an und ließ mich dann gehen.
In Italien fielen …
I N ITALIEN FIELEN TONIS Schwestern vor Sorge fast vom Fleisch, obwohl die Schweiz einen so guten Ruf hatte. Toni war auch ihretwegen etwas früher als vorgesehen hingefahren und hatte nichts hinterlassen außer einem Glas Oliven. Nun fiel meine Mutter vor Sorge vom Fleisch und lag meinem Vater seit drei Wochen mit Italien in den Ohren. Ihr Himmelelend hing ihr zum Hals heraus.
Sie wollte das Meer sehen.
Sie wollte Mozzarella essen.
Sie wollte etwas erleben.
Sie wollte nicht enden wie die Tatta, der der Seelenarzt Tabletten geben musste gegen die Langeweile im Herzen, gegen Verkümmerung und Dunkelheit.
Auf dem Tisch lagen Tonis Brief und eine Holzschachtel, die Tante Joujou geschickt hatte. Sie war etwas eingedrückt, aber sonst noch heil. Der Postbote hatte sie mit spitzen Fingern überreicht. Sie stank entsetzlich. Als Eli kam, hob mein Vater den Deckel der Schachtel ab, in der sich ein Käse mit weißem Fell wölbte und aussah, als würde er gleich explodieren.
– Von Joujou. Aus Frankreich.
Eli nickte anerkennend, und meine Mutter führte ihn zum Sims, auf dem die Fotos aus Tonis Brief aufgestellt waren. Ein Bild seiner Schwestern, eins der Tomatenfelder, eins vom Elternhaus, von den Eltern, der Irrenanstalt, der Kirche, dem Markt, eins mit Bergen von Wassermelonen und eins mit Mozzarella auf einem Teller. Eli wischte sich die Finger ab und schaute es sich genau an.
– Er fotografiert Käse?
– Er hat eine künstlerische Ader.
– Sie möchte ans Meer fahren.
Mein Vater kannte das Meer nur aus Erzählungen. Dass man dort einfach sitzen kann und warten, wie es kommt und
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