Monrepos oder die Kaelte der Macht
Brillengestell furchend, ließ er von der zwanghaften Observation ab. Doch immer wieder schweifte sein Blick hinüber, als hoffte er, in einem günstigen Moment die Auflösung des Paradoxons berechnender Unbekümmertheit in Spechts Mimik zu erhaschen; der tat ihm den Gefallen keineswegs.
Man war nun bei dem angelangt, was wirklich alle beschäftigte: dem bevorstehenden Wahlkampf. Willi Pörthner hatte seine große Stunde. Er durfte ausführlich referieren, wieviele Werbeflächen belegt würden, welche Abnahmepreise die Kreisverbände für christdemokratische Kugelschreiber, Autoaufkleber, Luftballons und Papierfähnchen zu entrichten hätten, wie das Layout für Kandidatenprospekte gestaltet sein müsse, wann die Fototermine der Abgeordneten mit dem Ministerpräsidenten stattfänden und wo der Wahlkampfbus zum Einsatz komme.
Die Luft füllte sich mit Stimmengewirr, Zigarrenqualm und kampfeslustiger Vorfreude. Erste Exemplare von Argumentationsbroschüren und Faltblättern wurden herumgereicht. Das Münchner Team berichtete, die Drehbücher für die Hörfunk- und Fernsehspots, ebenso witzig wie ›hinterfotzig‹, seien bereits fertig. Jemand wollte wissen, die SPD erwäge eine einstweilige Verfügung gegen die Union, wenn sie den Slogan ›Freiheit statt Sozialismus‹ plakatiere. Das löste heiteren Jubel aus. Rotwein wurde geordert.
Da Gundelach seine Aufgabe, als geistiger Zeugwart für Änderungswünsche am Parteitrikot zur Verfügung zu stehen, als beendet ansah, wandte er sich zum Gehen. Es widerstrebte ihm, sich dem lärmenden Kollegium, das nach Art einer Oberprima schon mal die Abiturfeier probte, mit dem Stuhl unterm Hintern zu nähern, wie einige Zaungäste es taten. Er packte seine Unterlagen zusammen und verließ den Salon, ohne sich zu verabschieden.
In der teppichüberladenen Eingangshalle überfiel ihn ein dringendes Bedürfnis; er stellte die Aktentasche beiseite und eilte zur Toilette.
Vor einem der Urinale stand ein Mann, der ein paar Plätze entfernt von ihm gesessen und ab und zu ironische Anmerkungen in Richtung Vorstandschaft ausgestreut hatte, was von Specht grinsend erwidert worden war. Der Mann war kleiner als Gundelach, gedrungen, hatte ein fleischiges, rosiges Gesicht und hellbraune, lockig in die Stirn fallende Haare.
Tachchen, sagte er. Kennen wir uns?
Nicht daß ich wüßte, antwortete Gundelach und nannte seinen Namen.
Ich heiße Wiener, entgegnete der Nebenpinkler. Tom Wiener. Besser, wir geben uns jetzt nicht die Hand.
Gundelach bestätigte es.
Sind Sie der neue Schreibknecht von Breisinger? Scheinen ja gut eingeschlagen zu haben, was man so hört. Stammt die Wahlkampflyrik auch von Ihnen?
Im wesentlichen, ja.
Sind gute Formulierungen drin. Schade, daß keiner sie ernst nimmt, außer Breisinger natürlich. Ich bin übrigens der Pressesprecher der Fraktion. Schon mal von mir gehört?
Nein.
Das ist ein Fehler, sagte Wiener und tropfte ab. An Ihrer Stelle würde ich mich rechtzeitig um die kümmern, die nachkommen. Vivant sequentes, um meinen alten Lateinlehrer zu zitieren. Aber Sie haben den Oskar ja schon ins Visier genommen, stimmt’s?
Gundelach wurde rot und schwieg. Wiener verschwand in den Waschraum. Als Gundelach fertig war, stand er noch vor dem Spiegel und kämmte die Haare. Gehen Sie wieder rein? fragte er. Nein? Sie haben’s gut, Mann. Ich muß mir das Geseiere noch eine Weile anhören. Also, tschüs! Er streckte Gundelach die Hand hin, sie war tropfnaß.
Auf der Türschwelle drehte sich Wiener um, zögerte und sagte leichthin: Wir sollten uns gelegentlich mal treffen. Es braucht ja nicht immer beim Pullern zu sein. Ich werd Sie anrufen, demnächst.
Der Aufschrei war, wie erhofft, gewaltig. Die Sozialdemokraten taten der Union den Gefallen und erklärten, kaum daß die Plakate klebten, warum Freiheit und Sozialismus keine Gegensätze seien.
Hektisch und erbittert taten sie es und gerieten dadurch immer mehr in die Defensive. Meppens schrieb Abhandlungen über den demokratischen Sozialismus und die ihm innewohnende Freiheitsidee und kreierte eine neue Sicht des Konservatismus, indem er Leute wie Breisinger, die am Überlebten festhielten, als Strukturkonservative, sich selbst aber, den humanen und ökologischen Bewahrer, als Wertkonservativen bezeichnete. Das war fein und vielleicht sogar trickreich gedacht, doch zu fein gesponnen für den politischen Normalverbrauch. Und die Genossen verwirrte es, plötzlich dem konservativen Lager, wenn auch als dessen
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