Monrepos oder die Kaelte der Macht
das Deckblatt besagte, daß es sich bei dem schmalen Werk um eine Vorlage des Landesvorstands handelte, die auf dem 9. Parteitag der CDU am 29. Januar 1977 zur Beschlußfassung eingebracht werden sollte.
Breisinger lobte das Papier als gelungenen programmatischen Wurf und eröffnete die Diskussion. Es gab einige Wortmeldungen. Sozialminister Gerlinde Bries schlug vor, im familienpolitischen Kapitel die Rolle der Frau als Mutter und Erzieherin noch stärker zu betonen. Staatssekretär Deusel vom Landwirtschaftsministerium ergänzte, das müsse auch für die kinderreichen Landfrauen gelten, deren aufopferndes Wirken leider gar nicht gewürdigt werde. Es wurde beschlossen, dies mit einem Satz nachzuholen.
Staatssekretär Kahlein – dessen Mitgliedschaft im CDU-Vorstand Gundelach überraschte, weil ihm bislang entgangen war, daß Kahlein auch das Amt eines Bezirksvorsitzenden bekleidete – bemängelte die Aussagen zur Wirtschaftspolitik. Zu allgemein seien sie und praxisfern, um nicht zu sagen: beamtenmäßig. Breisinger erwiderte, er sehe das nicht so. Oskar Specht, der Fraktionsvorsitzende, warf ein, zwar teile er Kahleins Meinung in der Sache, da aber Parteiprogramme sowieso von niemandem gelesen würden, wäre es ziemlich wurscht, was drinstehe. Das aufflackernde Gelächter erstarb unter Breisingers strafendem Blick. Der Wirtschaftsminister regte an, noch den Satz einzufügen: ›Der Mittelstand ist der Motor wirtschaftlichen Wachstums und die Grundlage für Wohlstand und soziale Sicherheit‹. Dem wurde allgemein zugestimmt.
Damit war das Wahlprogramm verabschiedet. Es folgten Anträge, die den bevorstehenden Parteitag betrafen. Die Aussprache war lebhaft, doch wenig diszipliniert. Immer wieder schweiften die Diskussionen ab. Kahlein meldete sich zu jedem Tagesordnungspunkt und teilte beißende Kritik aus. Generalsekretär, Geschäftsführer, Pressereferent, Junge Union bekamen gleichermaßen ihr Fett weg. Irgend jemand hatte immer etwas gesagt, was ihm mißfiel, oder nichts gesagt, wo eine Reaktion angezeigt gewesen wäre. Offenbar sammelte er Zeitungsausschnitte wie Philatelisten Briefmarken. Auch Deusel, den Gundelach bisher nur einmal auf Monrepos getroffen hatte, als der Staatssekretär seinen erkrankten Minister im Kabinett vertrat, tat sich mit Redebeiträgen hervor. Allerdings ging er niemanden direkt an, sondern verlegte sich aufs Mahnen und Warnen. Er mahnte zur Geschlossenheit, warnte davor, den Gegner zu unterschätzen, forderte Grundsatztreue und Glaubwürdigkeit ein und beschwor christliches Gedankengut. Was Deusel mit seinen eindringlichen Worten, denen niemand hätte widersprechen mögen, letztlich bezweckte, blieb Gundelach unklar. Aber die kräftige Sprache beeindruckte ihn.
Am stärksten zog ihn jedoch Oskar Specht in Bann. Der Fraktionsvorsitzende trug einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug mit Weste, auf der ein hoher und spitzer Hemdkragen aufstand; dazu eine breite, dezent gemusterte Krawatte, die den Westenausschnitt bedeckte. An den Ärmeln blinkten goldene Manschettenknöpfe. Spechts Kleidung stach vom biederen Äußeren der anderen Politiker ab, als hätte sich ein Wallstreetbänker in den Schaumbergerschen Salon verirrt.
Offenbar interessierte ihn das Geschehen ringsum, die um hehre Grundsätze geführte Debatte, recht wenig. Was er davon hielt, hatte er ja bereits zu Protokoll gegeben. Angeregt plauderte er mit seinen Nachbarn, und im Unterschied zu ihnen bemühte er sich nicht einmal, seine mangelnde Aufmerksamkeit vor Breisinger zu verbergen. Das fröhlich dahinlümmelnde, die Grenze zur Provokation streifende Benehmen paßte ganz und gar nicht zu seinem textilen Habitus; doch selbst diese Ungereimtheit, so schien es, bereitete ihm Vergnügen.
Den größten Widerspruch allerdings stellte Gundelach in Spechts Gesicht fest. Es war großflächig, weich und weiß, und auf jungenhafte Weise unfertig. Specht mochte wirklich, wie Gundelach gehört hatte, nicht älter als Mitte dreißig sein. Eine steil über der Nasenwurzel aufsteigende Falte und der schmallippige, wie mit dem Lineal gezogene Mund zeigten aber schon Lebenslinien, die gemeinhin als Ausdruck von Härte und Ehrgeiz gelten. Das schimmerte durch, wenn Specht schwieg oder abwesend aus dem Fenster starrte; es löste sich auf, verbarg sich zumindest, wenn er sprach.
Gebannt verfolgte Gundelach dieses Wechselspiel. Es zog ihn an und beunruhigte ihn. Erst als Specht ihn unwillig musterte, die Stirn über dem massiven schwarzen
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