Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf
glitzerten und schimmerten. Es war ein vollkommenes Paradies, und jedes Jahr war Annie eifersüchtig auf die Tiere, die ihre Sommer in einer solchen Umgebung verbringen durften.
Von der Anstrengung ermüdet, setzten sich alle zum Essen in den Schatten einer der Hirtenhütten, wo Brot und Bratenaufschnitt herumgereicht wurde, gefolgt von Rogallais-Käse aus der Region, dessen Kanten rau waren von den Schnitten zahlreicher Jagdmesser; zum Nachtisch gab es eine Croustade aus der Bäckerei in Massat, aus deren blättrigem Teig bei jedem Bissen die Blaubeeren herausquollen. Man teilte sich eine oder auch zwei Flaschen Wein, und hinterher streckten sich die Männer im Gras aus und dösten, während die Luft schwüler wurde, die Zikaden zirpten und die Frauen sich in kleinen Gruppen sammelten, dieStimmen zu einem gedämpften Murmeln gesenkt. Dann begann Emile Galy leise auf seiner Mundharmonika zu spielen. Die traurigen Töne wurden von den kleinsten Lüftchen fortgetragen und verbanden sich unterwegs mit den tieferen Klängen der Kuhglocken, bis Annie, deren Beine müde und deren Lider schwer waren, sich schläfrig fragte, ob man diese himmlischen Klänge wohl auch unten auf dem Hof noch hören konnte.
In jenem Jahr vor fünfunddreißig Jahren sollte sie die Gelegenheit erhalten, es herauszufinden, da sie zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben nicht an dem Almauftrieb teilnahm. Sie fühle sich nicht gesund genug dafür, hatte sie ihren Eltern erzählt, sie leide an einem Magen-Darm-Infekt. Und die Eltern hatten ihr geglaubt. Aber sie hatte gelogen.
Als sie nach ihrem Aufbruch den Kuhstall ausmistete und der Gestank ihren empfindlichen Magen in Aufruhr versetzte, hatte sie keinen Gedanken an Emile Galy und seine Mundharmonika verschwendet. Sie war viel zu sehr mit einem anderen Thema beschäftigt gewesen. In der Woche zuvor war sie beim Arzt gewesen, und der hatte ihre wachsende Befürchtung bestätigt.
Sie war schwanger. Und unverheiratet. Was um alles in der Welt sollte sie nur tun?
Angesichts der wenigen Möglichkeiten, die ihr blieben, war sie mit der Antwort noch nicht sehr weit gekommen, als sie Schritte hörte und eine Frauenstimme ihren Namen rief.
»Annie? Annie? Bist du da?«
Sie streckte den Kopf zur Stalltür hinaus und erblickte Thérèse Papon, die versuchte, sich einen Weg durch die Kuhfladen auf dem Hof zu bahnen, und dabei in ihrem hübschen Kleid und den Stöckelschuhen völlig fehl am Platz wirkte. Was zum Teufel machte sie hier? Wenn siePapa wegen der nächsten Gemeinderatssitzung Bescheid gab, rief sie für gewöhnlich einfach an.
Annie umfasste die Mistgabel mit festerem Griff und wartete. Sie hatte eine ungute Vorahnung, warum sie gekommen war.
»Annie? Oh, da bist du ja!« Thérèse hatte sie endlich entdeckt, legte die kurze Entfernung zum Stall zurück und umarmte sie. Der starke Geruch ihres Parfüms verursachte sogleich ein Gefühl der Übelkeit bei Annie.
»Papa ist nicht da …«, begann sie und musste gegen den Brechreiz ankämpfen. Thérèse legte ihr sogleich eine Hand auf den Arm, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Ich bin wegen dir gekommen, Annie.« Sie räusperte sich, und ihre Hände spielten nervös mit den Riemen ihrer Handtasche. »Ich, äh … ich muss mit dir reden. Allein.«
Annies Herz begann in ihrer Brust zu hämmern. Ihr fiel nur eine einzige Sache ein, weshalb die zurückhaltende Thérèse Papon wohl mit ihr sprechen wollte, und diese Unterhaltung wollte sie auf gar keinen Fall mit ihr führen. Ihr Mund wurde ganz trocken.
»Also … ich weiß es. Dass du … dass du …« Thérèses Stimme zitterte, und Annie wartete darauf, dass sie seinen Namen sagen würde. Aber stattdessen deutete sie vage auf Annies Taille, den Blick dabei fest auf einen Heuballen in der Ecke gerichtet.
»Ich weiß, dass du schwanger bist.«
Annie holte erschreckt laut Luft und streckte die Hand aus, um sich am Futtertrog abzustützen. Sie hatte bewusst den Arzt in der Stadt aufgesucht statt ihren Hausarzt in Massat, da sie hoffte, dort ihre Anonymität wahren zu können. Aber irgendwie hatte Thérèse es herausgefunden.
»Wie zum Teufel …?«, brachte sie heraus.
»Meine Cousine. Sie ist Arzthelferin bei dem Doktor, beidem zu warst.« Thérèse zuckte halb entschuldigend die Schultern, aber Annie wusste nur zu gut, wie die Leute in kleinen Gemeinden tratschten. Sie hatte in der letzten Woche an nichts anderes mehr denken können.
»Sie war schockiert. Wollte wissen, ob ich eine
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