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Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf

Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf

Titel: Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stagg
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Sommers gelitten wie eine pyrenäische Wildblume in der prallen Sonne und sich zurückgesehnt nach dem Hof inmitten der grünen Weiden, umgeben von den Gipfeln, die sie so gut kannte.
    Als sie endlich mit ihrer kleinen Tochter in ihre geliebten Berge zurückgekehrt war, hatten ihre Eltern sie zu Hausemit offenen Armen empfangen und den winzigen Säugling mit Liebe und Zuwendung überhäuft. Aber außerhalb der Familie sah sich Annie mit haarsträubenden Gerüchten und einer Unmenge von Klatsch und Tratsch konfrontiert. Sie schied aus dem Conseil Municipal aus, begann sämtliche gesellschaftliche Ereignisse zu meiden und widmete sich der Bewirtschaftung des Hofes. Und sie nahm nie wieder an einem Almauftrieb teil. Ihr Vater hatte sich niemals zu ihrem Widerwillen geäußert, am Gemeindeleben teilzunehmen, aber bis zu seinem Todestag hatte er nicht verstehen können, warum sie Thérèse Papon, die der landläufigen Meinung nach eine der nettesten Frauen des Dorfes war, derart hasste.
    Und nun, da sie fünfunddreißig Jahre später auf einer eiskalten Bank saß, konnte Annie es auch nicht ganz verstehen. Sie hatte nie herausfinden können, ob sie die Frau hasste, weil sie wegen ihr das Dorf verlassen musste, oder, weil sie sie gezwungen hatte, eine Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, die, ohne dass Thérèse Papon sie in die Ecke gedrängt hätte, vielleicht anders ausgefallen wäre.
    Annie erhob sich mit steifen Hüften und knackenden Knien und folgte dem Fußweg, der um das Krankenhaus zum Parkplatz führte. Christian und Véronique fragten sich wahrscheinlich schon, wo sie abgeblieben war. Und sie hatte noch nicht einmal einen Termin beim Zahnarzt ausgemacht. Na ja, der lief ihr ja nicht davon. Sie würde nächste Woche vorbeischauen. Und bei der Gelegenheit vielleicht Thérèse besuchen. Schließlich hatte sie ihr verdammt viel zu verdanken. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte Véronique vielleicht nie das Licht der Welt erblickt.
    Annie schüttelte den Kopf angesichts der Vielschichtigkeit menschlichen Lebens und ging auf den Wagen zu.
    Menschliches Leben mochte kompliziert sein, aber im Jenseits war es offenbar auch nicht leichter. Als Jacques vom Kühlschrank heruntersprang und mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf durch den Laden in die Bar schlenderte, blickte Josette von den Geschäftsbüchern auf, mit denen sie seit einer Stunde beschäftigt war.
    Er machte ihr schon den ganzen Morgen das Leben schwer, schlich herum wie ein verdrießlicher Teenager und zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Zweifellos würde er nun wieder in der Kaminecke vor sich hin schmollen.
    Josette warf entnervt den Stift zur Seite. Sie lehnte sich auf dem Hocker zurück, damit sie ihn durch die Türöffnung sehen konnte, und ihre Verärgerung verflog sogleich. Er saß da, den Kopf in die knotigen Hände gestützt, und blies ins Feuer, das bei jedem Atemstoß aufflackerte. Damit machte er einige Minuten weiter, bis ihn auch das zu langweilen schien und er nur noch dasaß und missmutig in die Flammen starrte.
    Sie wusste, was mit ihm los war. Zu Lebzeiten hatte er bei allem mitgemischt. Als langjähriges Mitglied des Gemeinderats war er derjenige gewesen, zu dem die Leute kamen und um Hilfe baten – ob es dabei nun um so unkomplizierte Dinge wie eine Baugenehmigung oder um ernste Angelegenheiten wie einen Nachbarschaftsstreit ging. Jeder hatte gewusst, dass, egal um welches Dilemma es sich auch handelte, Jacques Servat alles tun würde, damit die Dinge wieder ins Lot kamen. Und meistens hatte er Erfolg.
    Aber nun, da die Gemeinde um sie herum auseinanderzufallen schien, war er machtlos, und Josette teilte seinen Frust.
    Sechs Tage nach dem Sturm waren viele Häuser immer noch ohne Strom und die Telefonleitungen unterbrochen;auch die Wasserversorgung war noch nicht bei allen wiederhergestellt. Das Postamt hatte man nach dem Feuer auf unbestimmte Zeit geschlossen, und Rentner aus der Gegend, von denen viele nicht nach Massat oder Seix fahren konnten, hatten Schwierigkeiten, an ihre Rente zu kommen. Die Straßen waren aufgrund der umgestürzten Bäume und der vielen Erdrutsche so schlecht, dass der Schulbusbetrieb hinauf nach Fogas eingestellt worden war und die Post in der Épicerie gelagert wurde. Und was die arme Véronique anging, so vermochte niemand zu sagen, wie lange es dauern würde, bis sie in ihre Wohnung zurückkonnte. Bislang war noch keine Entscheidung getroffen worden, wo sie in der Zwischenzeit

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