Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf
seiner Stimme aus dem Zimmer gegenüber, dessen Tür einen Spalt offen stand. Sie überquerte rasch den Flur, presste sich mit dem Rücken gegen die Wand und fragte sich, ob sie es wagen sollte, einen Blick hineinzuwerfen. Während sie noch überlegte, ob sie es riskieren sollte, hörte sie, wie seine Stimme an- und abschwoll. Und mit einem Mal begriff sie, dass er gar nicht redete. Er betete.
Serge Papon, der gerade mal so viel für die Kirche übrighatte wie für streunende Hunde, betete. Der Schreck war so groß, dass sie sofort den Hals reckte, bis sie um den Türrahmen herum sehen konnte, wie er mit dem Rücken zu ihr neben einem Bett saß, den Kopf gesenkt, und mit den steifen Fingern seiner rechten Hand die Rosenkranzperlen zählte, während er ein Ave-Maria betete.
Nun, da sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte, wurde Annie mutiger und veränderte ihre Position ein wenig, um herauszufinden, wer dort im Bett lag. Aber alles, was sie zu sehen vermochte, war eine bleiche Hand auf der Bettdecke, deren dünne Finger leicht auf Serges linker Hand lagen. Sein breiter Rücken versperrte ihr die Sicht.
Annies Neugierde war geweckt, und sie lehnte sich wieder zurück, außer Sichtweite, hielt den Atem an und schob die Tür mit ihren Fingerspitzen ein Stückchen weiter auf. Dann wartete sie eine Sekunde und spähte erneut hinein, doch es nützte nichts. Sie konnte immer noch nichts sehen. Sie kam sich wie eine Spannerin vor und wollte gerade gehen, als Serge den Rosenkranz fallen ließ. Er beugte sich mit einem Ächzen vor, um ihn aufzuheben, und nun konnte Annie nur allzu deutlich erkennen, wen er da besuchte.
Sie wich rasch von der Tür zurück und war schon wiederhalb den Flur hinunter, ehe sie bemerkte, dass sie immer noch den Atem anhielt. Ihre Beine zitterten vor Schreck, Adrenalin wurde viel zu schnell durch ihren Körper gepumpt, aber sie blieb nicht stehen. Sie musste unbedingt an die frische Luft.
Endlich kam ein Ausgang in Sicht. Sie stolperte darauf zu und versetzte der Tür in ihrer Hast, aus dem Krankenhaus herauszukommen, einen kräftigen Schubs. Sie taumelte in einen kleinen Hof, die beißende Kälte ein willkommener Schlag ins Gesicht, und ließ sich auf eine Holzbank fallen. Mit leerem Blick starrte sie auf das prächtige Panorama der Berge jenseits von St. Girons und wartete darauf, dass sich ihr Herzschlag beruhigte und sie wieder Herrin all ihrer Sinne war.
Herrje! Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen.
Das war seine Frau, die da in dem Bett lag. Aber die war nicht der Grund, warum sie so erschrocken war. Auch wenn sie gehört hatte, dass sie eigentlich ihre Familie in Toulouse besuchen würde und daher das Krankenhaus der letzte Ort war, an dem Annie damit gerechnet hatte, sie zu sehen. Nein, es war ihr Aussehen, über das sie erschrocken war. Annie hatte in ihrem Leben genügend kranke Tiere gesehen, um zu wissen, wenn der Tod unmittelbar bevorstand. Und der Anblick von Thérèse Papons Gesicht, in dem sich die grau durchscheinende Haut so straff über die Knochen spannte, hatte ausgereicht, um sie erkennen zu lassen, dass diese Frau, die sie einst mit einer Inbrunst gehasst hatte, über die sie sich heute nur noch wundern konnte, dem Tode nahe war.
Annie stieß einen tiefen Seufzer aus. Ihr Atem trieb in einer wirbelnden weißen Wolke vor ihrem Gesicht. Gott, fünfunddreißig Jahre war das nun her, und es fühlte sich an, als wäre es gestern gewesen.
Damals war wieder einmal die Zeit für den Wechsel zwischen Winter- und Sommerweiden gekommen, und sie war allein auf dem Hof zurückgeblieben, während Papa und Maman die Kühe auf die höhergelegenen Weiden trieben. Normalerweise hatte Annie ihren Papa immer begleitet. Der lange Marsch den Berg hinauf war für sie ein Höhepunkt im Jahr gewesen. Der frühe Aufbruch hatte ihr nie etwas ausgemacht, und sie hatte die Kameradschaft mit den Bauern der benachbarten Höfe genossen, die zusammenarbeiteten, um dafür zu sorgen, dass die Tiere die Hochebene wohlbehalten erreichten. Es wurde immer viel geredet und gelacht und hin und wieder auch geflucht, wenn ein Schaf den Berghang hinauf davonlief und irgendjemand einen Hund hinterherschicken musste oder wenn eine Kuh störrisch wurde und sich weigerte, weiterzugehen.
Aber der beste Teil folgte, wenn sie endlich die Sommerweiden erreicht hatten, das saftige Gras sich voller Wildblumen vor ihnen erstreckte und die Sonne über den Bergen stand, wo die letzten Schneereste an den Flanken
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