Monströs (German Edition)
essen und nichts ärgert Hans mehr, als wenn jemand zu spät kommt.«
»Kann ich verstehen«, entgegnete er geistesabwesend.
»Sag mal, wie siehst du denn aus? Du bist ja kreidebleich, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
Er konnte ihr unmöglich sagen, dass sie damit den Nagel fast auf den Kopf getroffen hatte. Es war mehr als unheimlich, plötzlich E-Mails von seiner totgeglaubten Ehefrau zu bekommen.
»Das muss die anstrengende Fahrt hierher gewesen sein. Ich fühle mich ziemlich matt.«
»Na komm, vielleicht hast du auch einfach nur Hunger.«
Martin folgte ihr nach unten in den Speisesaal und beschloss insgeheim, in dieser Nacht noch nicht mit seiner Arbeit an den Möbeln zu beginnen. Er würde nachher Ram anrufen. In seinem Kopf drehte sich nur noch alles um die eine Frage, was hinter diesen merkwürdigen E-Mails steckte. War Anna noch am Leben? Wie sollte das möglich sein? Er dachte an Zeugenschutzprogramme oder eine seltene Krankheit, wodurch die gezwungen gewesen sein könnte, ihre Familie zu verlassen. Aber wer hätte dann an ihrer Stelle in dem Sarg gelegen? Und warum schrieb sie ihm ausgerechnet jetzt diese seltsamen E-Mails, in denen sie es als ihre Aufgabe verkündete, Menschen für ihre Sünden büßen zu lassen.
Als sie ins Restaurant kamen, saßen bereits vier Personen um den runden Tisch, über dem ein prunkvoller Kronleuchter hing. Der Hoteldirektor Walter Zurbriggen, Eugen Bumann von der Rezeption sowie ein Mann Anfang sechzig mit grauem Vollbart und dunklen Haaren und eine Dame, die Martin mindestens ebenso alt schätzte wie den Mann. Die Frau war vollkommen schwarz gekleidet und hatte graue lange Haare, die sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte. In der rechten Hand hielt sie einen Stock, der ihr als Gehhilfe diente. Ihre Augenfarbe war fast schwarz und ihr Blick war hart. Zurbriggen bat Selma und Martin, Platz zu nehmen.
»Darf ich vorstellen, die Eigentümerin dieses Hotels, Marianne Seewald«, sagte Zurbriggen und machte eine ausladende Handbewegung in Richtung der älteren Frau. »Und das ist unser Hausmeister«, Zurbriggen nickte in Richtung des Mannes mit dem Vollbart, »Ernst Söder. Frau Seewald ist noch hier, um den Beginn der morgigen Bauarbeiten zu verfolgen. Frau Seewald, Herr Söder«, Zurbriggen wies jetzt auf Martin, »das ist Herr Waller. Er wird unsere antiken Möbel mit der gebotenen Vorsicht restaurieren.«
Marianne Seewald schenkte Martin ein schmales Lächeln, sagte aber nichts. Eugen Bumann stand auf und schenkte rundum Weißwein in die Gläser. Als er bei Martin ankam, lehnte dieser dankend ab und beugte sich über den Tisch, um sich bei dem Wasser zu bedienen. Söder versuchte, die Situation etwas aufzulockern.
»Damit sind die Deutschen an diesem Tisch mit vier zu drei in der Überzahl.«
Zurbriggen zog die Augenbrauen hoch, rieb sich seinen dicken Schnurrbart, der ihm Ähnlichkeit mit einem Walross verlieh, und tat so, als müsse er überlegen. Dann blickte er den Hausmeister mit gespieltem Erstaunen an.
»Söder, Sie haben Recht. Wenn mir das vorher aufgefallen wäre, hätte ich Selmas Vorschlag, Herrn Waller als Restaurator zu beauftragen mit Sicherheit abgelehnt.«
Zurbriggen lachte lauthals los. Er dachte, er hätte einen guten Witz gemacht. Söder stimmte mit ein. Selma, Martin und Marianne zeigten ein höfliches Lächeln.
Alle waren froh, als endlich Hans Meier mit zwei silbernen Tabletts durch die Schwingtür der Küche fegte. Er stellte die Tabletts in die Mitte des Tisches und hob gleichzeitig die beiden Deckel ab. Auf einem Tablett lag aufgeschnittene Entenbrust und auf dem anderen Gemüsebeilagen. Der Duft des Fleisches schoss Martin in die Nase. Er hatte seit dem frühen Morgen keinen Bissen mehr zu sich genommen und dennoch war sein Magen wie zugeschnürt. So schnell, wie Meier an den Tisch gekommen war, war er auch schon wieder verschwunden. Binnen Sekunden kam er mit einer großen Schüssel Rosmarinkartoffeln aus der Küche zurück. Er stellte sich vor seinen Stuhl und hob sein Glas. »Entenbrust nach Art des Hauses, dazu Gemüseallerlei mit Rosmarinkartoffeln, bitte greifen Sie zu und lassen Sie es sich schmecken.«
Während die anderen beherzt zugriffen und sich das Essen auf die Teller schaufelten, bemerkte Martin, wie er mehr und mehr in seiner Gedankenwelt versank. Was tat er hier, unter diesen Menschen, die er nicht kannte? Heute war Annas Todestag. Er sollte an ihrem Grab sein, er sollte bei seinem Jungen sein. Eine tiefe
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