Monströs (German Edition)
paar Tage danach hatte Martin einen Brief von ihnen erhalten, in dem sie ihm die Schuld am Tod ihrer Tochter gaben. Und irgendwie hatten sie auch recht, auch wenn sie nicht wissen konnten, was genau der Grund für Annas Selbstmord gewesen war, genauso wenig wie Martin selbst es wusste. Möglicherweise hatte Anna sich aber ihrer Mutter anvertraut, so dass sie von der Sache wusste, nach der Anna eine andere wurde. Annas Eltern hatten danach nie wieder Kontakt mit ihm aufgenommen.
Auch wenn Martin nie dahinter gekommen war, was genau Annas Leben aus der Bahn geworfen hatte, so hatte er doch gespürt, dass an jenem unseligen Tag vor fast sieben Jahren, an welchem er der Hauptzeuge der Anklage gewesen war, ein wichtiger Teil von ihr zerbrochen war. Er hatte es anfangs verstehen können, in Anbetracht der gefährlichen Situation, in die er sie gebracht hatte. Aber auch mit der Zeit, lange, nachdem es vorbei war, war es ihm nicht gelungen, sie wieder zu dem Menschen zu machen, der sie vorher gewesen war. Er hatte sie gebeten, sich professioneller Hilfe zu bedienen. Er hatte sie bedrängt Dr. Hörschler aufzusuchen, doch sie hatte abgelehnt. Sie wollte mit niemandem über diesen Tag sprechen, an dem ihr Leben an einem seidenen Faden hing. Vier Jahre später hatte sie es aus freien Stücken beendet. Warum? Martin wusste es bis heute nicht.
Es gab Menschen, die über Monate als Geiseln gefangen gehalten wurden. Bei Anna hatte es höchstens zwei Stunden gedauert, gerade solange er im Gerichtssaal war. Nichts, worüber man nicht hinwegkommen könnte. Es sei denn, in jener Zeit wäre etwas geschehen, worüber sie nie mit ihm gesprochen hatte.
11
Der Elektroschock saß ihm noch in den Gliedern. Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war. Es grenzte an ein Wunder, dass er überhaupt wieder zu sich gekommen war. Bei der Kälte hätte die Bewusstlosigkeit leicht zum Tod führen können. Jetzt war er wieder wach, hatte versucht, sich aufzurappeln, aber es hatte nicht funktioniert. Seine Muskeln waren wie eingefroren und seine Beine waren taub, als ob sie jemand amputiert hätte. Es würde nicht mehr lange dauern und er würde wegen Unterkühlung sterben. Kein schöner Gedanke. Er war unglaublich müde. Gleichzeitig wusste er, dass er seinem starken Bedürfnis, die Augen für einen Moment zu schließen, und einzuschlafen, nicht nachgeben durfte. Das wäre sein sicheres Todesurteil. Mühsam begann er, im Schnee vorwärts zu kriechen. Der vom Wind aufgewirbelte Schnee stach wie Nadeln in sein Gesicht. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, nur um ein paar Meter vorwärtszukommen. Immer wieder musste er innehalten und sich ausruhen. Irgendwann gelangte er an eine fast bodentiefe Fensterfront. Im Inneren sah er einen erleuchteten Kronleuchter. Er raffte sich auf und sah hinein. Verschwommen erkannte er ein paar Leute, die an einem Tisch saßen. Kurz überlegte er noch, ob er auf sich aufmerksam machen sollte. Dann erkannte er, dass ihm nichts anderes übrig blieb, wenn er überleben wollte. Einen anderen Weg ins Hotel würde es für ihn nicht mehr geben. Jetzt erst fiel ihm auf, dass seine Pistole fehlte. Mit einer letzten großen Kraftanstrengung setzte er sich auf und schlug gegen die Fensterscheibe. Doch die erhoffte Reaktion blieb aus. Niemand schien ihn wahrzunehmen. Dann erst wurde ihm bewusst, dass hier draußen mittlerweile die Hölle los war. Der Wind hatte sich zu einem leichten Sturm entwickelt und immer wieder peitschten die Böen gegen die Glasfront. Sein Klopfen ging in dem Getöse unter. Er musste anders auf sich aufmerksam machen, aber viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Er hatte den Großteil seiner letzten Kraftreserven mit dem Kriechen über den Schnee und dem Klopfen an die Scheibe verbraucht. Verzweifelt sah er sich um. Hier war nichts als Schnee. Und dann hatte er eine Idee. Es war nur eine winzige Chance, aber mehr hatte er nicht. Wenn es nicht funktionierte, würde er sterben. Dann hätte derjenige, der sich das alles ausgedacht hatte gewonnen. Eddies Bruder und seine Frau waren tot und für die Polizei war Eddie der Täter. Das konnte Raphael nicht zulassen.
12
Ein Klopfen an der Tür ließ Martin hochfahren. Er hatte mit leerem Blick vor dem Notebook gesessen und darauf gewartet, dass Ram sich meldete. Doch das war bisher nicht geschehen. Wie in Trance ging er zur Tür und öffnete.
»Hallo.« Es war Selma. »Dachte, ich schaue mal, wo du bleibst. In ein paar Minuten gibt es was Leckeres zu
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