Monströs (German Edition)
Traurigkeit überkam ihn, als er wieder vor sich sah, wie er Anna kennen gelernt hatte. Es war, als ob es gestern gewesen wäre.
Es war vor Weihnachten und in der Studentenkneipe stieg eine Nikolausfete. Anna war in Begleitung einer Freundin, die wie Martin Jura studierte und die er kannte. Es war leicht gewesen mit Anna ins Gespräch zu kommen und die Sympathie beruhte auf Gegenseitigkeit.
Er war damals fünfundzwanzig im letzten Semester und Anna war einundzwanzig. Ihr magisches Lächeln und die pure Lebensfreude ausstrahlenden Augen hatten es ihm sofort angetan. Sie hatten am Ende des Abends ihre Telefonnummern ausgetauscht. Eine Woche später hatten sie ein Date und von da an waren sie zusammen. Während Anna ihr Studium in Kunstgeschichte und Germanistik absolvierte, begab sich Martin in das juristische Referendariat und fing nach seinem zweiten Staatsexamen, das er wie das Erste mit Prädikat schaffte, in einer renommierten Kanzlei für Straf- und Steuerrecht an.
Er erinnerte sich noch daran, wie er sich bei einem ihrer ersten Verabredungen darüber amüsiert hatte, dass sie Kunstgeschichte studierte. Wie willst du denn damit Geld verdienen, hatte er gescherzt. Vielleicht will ich ja gar kein Geld damit verdienen. Vielleicht studiere ich es ja nur, weil es mir Spaß macht, hatte Anna keck gekontert. Nach ihrem Studium hatte sie dann entgegen seiner Vermutung einen tollen Job bekommen, den sie liebte. Sie wurde die Assistentin des Marketingleiters einer Bio-Supermarktkette. Eigentlich hatte sie nicht die Ausbildung dafür, aber Anna hatte eben diese Ausstrahlung, der niemand widerstehen konnte.
Nachdem Martin zwei Jahre in der Kanzlei gearbeitet und sich einen guten Ruf als Strafverteidiger erworben hatte, machte er sich mit einem früheren Kommilitonen in einer eigenen Sozietät selbständig. Zwei weitere glückliche Jahre vergingen. Und dann kam mit seiner Aussage vor Gericht nicht nur das vorzeitige Aus für seine Anwaltskarriere, sondern auch Annas Niedergang. Nochmal vier Jahre später beschloss Anna an einem grauen verregneten Morgen im November, sich das Leben zu nehmen. Sie wurde nur einunddreißig Jahre alt.
Nicht jeder beging das Leben auf einem geraden Weg ohne Holpersteine. Martin kam sich vor, als habe sein Weg ihn zu einer unendlich tiefen Schlucht geführt. Es war so abrupt geschehen, dass er ins Leere getreten und hinab gestürzt war. Seinem Gefühl nach dauerte der Sturz immer noch an.
Annas Tod war auch der Grund gewesen, warum er zu Dr. Hörschler gegangen war. Hörschler war Psychotherapeut. Er hatte einen guten Ruf. Ironie des Schicksals. Eigentlich hätte Anna zu Hörschler in die Behandlung gehen sollen. Aber sie hatte sich geweigert und dann war es zu spät gewesen.
Seine Panik vor Schnee und die leichte Klaustrophobie hatte Dr. Hörschler nur nebenbei festgestellt. Die Gründe, warum er Dr. Hörschler eigentlich aufgesucht hatte, waren seine Trauer und seine Alkoholsucht. Das eine bedingte das andere und mit beidem wurde er nicht mehr allein fertig. Um das einzusehen, hatte er ein ganzes Jahr gebraucht.
»Ich finde, das Hotel hat etwas Unheimliches, wenn es so still und leer ist«, sagte Bumann, während er sich von den Kartoffeln auftat.
Martin schrak auf. Er war wieder da und zu seiner Verwunderung, war noch nicht sehr viel Zeit vergangen. Außer Selma schien niemand bemerkt zu haben, dass er nicht bei der Sache gewesen war.
»Haben Sie den Film Shining gesehen?«, fragte Selma in die gerade eingetretene Stille.
»Allerdings«, sagte Zurbriggen. »Aber Jack Nicholson war in dem Hotel mit seiner Familie allein und außerdem hat es dort wahrhaft gespuckt.«
»Der Wahnsinn kann jederzeit und überall von einem Besitz ergreifen. Es kommt nur auf die Umstände an«, sagte Marianne.
Sie hatte eine unglaublich tiefe Stimme. Gleichzeitig war es das Erste und das Letzte, was sie an diesem Abend bei Tisch von sich gab. Wie immer, wenn Leute die zusammensitzen, sich nicht besonders gut kennen, wurde über die Arbeit, Sport und das Wetter geredet. So auch bei diesem Essen. Der Wetterbericht hatte laut Söder starken Wind und Temperaturen von bis zu minus drei Grad vorhergesagt. Hin und wieder bestätigte sich das, wenn sie den Wind gegen die Glasscheiben prallen hörten und die Schneeverwirbelungen im Licht der Außenstrahler sahen. Eine Stunde später hatten sie auch das Eis, das es zum Nachtisch gab, verspeist.
Zurbriggen unterhielt jetzt seine Gäste mit derben Witzen und
Weitere Kostenlose Bücher