Monströs (German Edition)
vor Schreck zusammen. Dann begriff er, dass nicht Eddie dafür verantwortlich war, sondern der Wind, der so stark in die Kapelle geblasen hatte, dass die meisten der Kerzen jetzt erloschen waren. Martin humpelte zur Tür, schaute sich draußen um und wollte schon hinausgehen. Doch dann hielt er inne, machte auf dem Absatz kehrt, schloss die Tür hinter sich und ging nach vorne zu den Kerzen. Er kramte ein paar Münzen, die er immer lose in der Hosentasche hatte, hervor, warf sie in die Sammeldose und nahm sich eine frische Kerze. Mit den daneben liegenden Streichhölzern zündete er sie an. Er schloss die Augen und faltete die Hände.
»Bitte Gott, lass alles gut ausgehen. Beschütze Paul und meinen Vater und lass mich hier lebend raus kommen, damit ich Paul ein guter Vater sein kann, er braucht mich.«
In Filmen ließen die Helden sich niemals dazu herab, Gott um Hilfe anzuflehen. Aber er war kein Held und dies hier war das wirkliche Leben. Er wusste, dass seine Worte kitschig klangen. Aber hier war niemand außer ihm und Gott, der zuhörte. Er hatte als Kind täglich gebetet. Er dachte damals, die Gebete stellten eine direkte Verbindung zu Gott her, und wenn er sie nicht täglich wiederholte, würde diese Verbindung abbrechen und Gott würde sich von ihm abwenden und nicht mehr über ihm wachen. Irgendwann hatte er damit aufgehört. Er hatte nur noch gebetet, wenn es ihm schlecht gegangen war, so wie die meisten Menschen es taten, die sich Christen nannten. Plötzlich wusste er, dass er es als Kind richtig erkannt hatte. Dann wandte er sich um und ging hinaus. Der Sturm peitsche ihm ins Gesicht. Die Windböen schienen aus allen Richtungen gleichzeitig über ihn hereinzubrechen. Die Schmerzen waren schlimm, aber das Gebet hatte ihm auf unerklärliche Weise Kraft gegeben. Der breite, gepflasterte Weg, der bei seiner Ankunft noch vom Schnee geräumt gewesen war, war nun zugeschneit. Die Schneedecke war etwa zehn Zentimeter hoch. Jetzt rächte sich, dass er keine Winterstiefel hatte. Durch die dünnen Sohlen seiner Schuhe drang die Kälte fast ungehindert hindurch. Doch nicht nur die Kälte ließ ihn frösteln. Sein gebrochener Arm, seine wahrscheinlich gebrochene Rippe und die Schulter machten seinem Körper zu schaffen. Von seinem blutigen Knie und den Kopfschmerzen ganz zu schweigen. Was er jetzt gebraucht hätte, war Ruhe und nicht diese Strapazen, die gerade erst begonnen hatten.
Der Weg schlängelte sich nach unten zur Bahnstation und war von einer Seite mit Straßenlaternen beleuchtet. Martin blieb auf der anderen Seite, wo es dunkel war, wenn man von Dunkelheit reden konnte. Der zunehmende Mond reflektierte so stark auf dem Schnee, dass man nun ziemlich gut sehen konnte. Es war allenfalls dämmrig. Nur das Schneetreiben hemmte die weite Sicht. Die umliegenden Viertausender hatten sich in den dichten weißen Wolken versteckt.
Auf der Hälfte des zirka zweihundert Meter langen Weges blickte Martin sich um. Das majestätische Hotel war umhüllt von Schneegestöber. Er sah, dass die Fenster in der ersten Etage hell erleuchtet waren. In der zweiten Etage gingen jetzt nach und nach die Lichter in den Zimmern an. Angst erfüllte ihn. Was wenn Eddie ihn jetzt entdeckte? Er wandte sich wieder um und lief so schnell er mit dem lädierten Knie und dem angelegten Arm konnte auf die Bahnstation zu. Zwei Minuten später war er da. Zu seiner Rechten befanden sich die Schranken, die zum Hauptgleis führten. Um hier durchzukommen, brauchte man eine gültige Bahnkarte. Die hatte er zwar, sein Ziel, den Schuppen mit der Draisine, konnte er aber einfacher über die linke Seite erreichen. Neben den Schranken stand eine große Tafel. Auf ihr war eine Landkarte abgebildet, die den Weg hier hinauf zum Hotel mit den verschiedenen Zwischenstationen darstellte. Oberhalb der Karte leuchtete eine elektronische Anzeige. Martin warf nur einen schnellen Blick darauf. Es handelte sich um ein Lawinenwarnsystem. Der darunter angebrachten Legende nach gab es vier Stufen. Die Lampe leuchtete rot, das bedeutete höchste Alarmbereitschaft.
Er ging, wie Selma es ihm erklärt hatte, links an dem Haus vorbei und kletterte unter der Barriere hindurch, vor der ein Verbotsschild mit der Aufschrift Kein Durchgang, Achtung Lebensgefahr angebracht war. Kein Wunder, nur zwei Meter von der Bahnstation entfernt, fiel das Bergmassiv ein paar hundert Meter fast senkrecht ab in die Tiefe. Er humpelte eng an der Wand des Hauses vorbei und erreichte die hintere
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