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Monströse Welten 1: Gras

Monströse Welten 1: Gras

Titel: Monströse Welten 1: Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sheri S. Tepper
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größerer Verstoß gegen die Etikette gewesen als die Beleidigung selbst – allemal von jemandem, der sie nicht kannte, dessen Aufgabe aber unzweifelhaft darin bestand, sie so schnell wie möglich kennenzulernen. Bei der Betrachtung seines rechteckigen, markanten Gesichts fragte sie sich jedoch, ob er sie jemals kennenlernen würde. Er wirkte nämlich nicht wie ein Mann, der besonderes Einfühlungsvermögen in andere Menschen besaß.
    Dennoch versuchte er mit einem für ihn untypischen Lächeln, charmant zu wirken. »Wenn der Sommer kommt«, sagte er in einem schwer akzentuierten Terranisch, dessen er sich bei diplomatischen Konversationen immer befleißigte, »wird es Ihnen so vorkommen, als ob hier immer Sommer wäre. Die Jahreszeiten auf Gras währen ewig. Der Sommer endet nie, und der Herbst auch nicht. Und selbst wenn Sie es nicht glauben: Wir haben jetzt Frühling.«
    »Woher sollte ich das denn wissen?« fragte sie mit echtem Interesse. Vom Fenster des Haupthauses, das auf einer leichten Anhöhe errichtet war, wirkte die Landschaft unter ihr wie ein endloser Ozean aus pastelligem Grau und blassem Gold, trockene Gräser, die wie die Wellen eines Meeres wogten, eine Fläche, die nur von vereinzelten Inseln aus großen, verwachsenen Bäumen unterbrochen wurde, deren Kronen so ausladend waren, daß sie sich als massive schwarze Objekte vor dem trüben Himmel abhoben. Es war nicht wie der heimische Frühling. Es hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit den Jahreszeiten zu Hause, wohin sie sich nun sehnlichst zurückwünschte, trotz des Enthusiasmus, mit dem sie diese Mission zunächst in Angriff genommen hatte.
    »Woran erkennen Sie, daß es Frühling ist?« fragte sie, wandte sich vom Fenster ab und ihm zu.
    Sie standen zwischen den hohen, hallenden Wänden einer arktisch kalten und leeren Kammer, welche die Botschaft darstellte. Das hohe Kreuzgewölbe war mit elfenbeinfarbenen Filigranmustern verziert; große, in eiskalte Bögen eingelassene Glastüren führten auf eine Terrasse; in blassem Licht glühende Korridore reflektierten ihre Bewegungen, als ob sie über eine mit einer feinen Staubschicht überzogene, polierte Eisfläche geschritten wäre. Obwohl es sich um eine der Haupt-Lobbies der Estancia handelte, war der Raum unmöbliert und hatte nicht einmal Vorhänge vor den vereisten Fenstern. Anscheinend genügte er sich selbst, wie auch das Dutzend anderer Räume, die sie besichtigt hatten; alle waren sie so groß, kalt und leer gewesen wie dieser hier.
    Die Estancia befand sich zwar in einem guten Zustand, war aber eine Zeitlang unbewohnt gewesen, und Marjorie, Lady Westriding, hatte den Eindruck, daß es dem Haus auch ganz recht so war. Möbel wären nämlich nur Fremdkörper in diesen Räumen gewesen. Sie hatten sich daran gewöhnt, ohne Mobiliar auszukommen. Auch auf Teppiche und Vorhänge war zugunsten dieser kühlen Schlichtheit verzichtet worden.
    »Betrachten Sie einmal das Gras auf den Stufen zur Terrasse«, sagte der Obermun. »Fällt Ihnen etwas auf?«
    Sie schaute auf die bezeichnete Stelle und überzeugte sich davon, daß der amethystfarbene Schatten, den sie sah, nicht bloß ein Effekt des oft trügerischen Lichts war. »Purpur?« fragte sie. »Purpurnes Gras?«
    »Wir bezeichnen diese spezielle Sorte als Königsmantel«, erklärte er. »Es gibt hundert Gräser auf dieser Welt, in mannigfaltigen Formen und Größen und in einer unglaublichen Farbenvielfalt. Wir haben zwar keine Blumen in dem Sinn, wie man sie auf Heiligkeit kennt, aber dennoch mangelt es uns nicht an Blüten.« Wie die meisten, denen sie auf Gras begegnet waren, gebrauchte auch er das Wort ›Heiligkeit‹ als Synonym für Terra. Erneut war sie versucht, ihn zu korrigieren, aber dann unterließ sie es doch. Die Zeiten, als Heiligkeit nur auf Terra begrenzt war, lagen lange zurück, und es hatte keinen Sinn, seine Allgegenwart und Allmacht auf der Wiege der Menschheit in Abrede zu stellen.
    »Ich habe Snipopeans Bericht über die Grasgärten von Klive gelesen«, murmelte sie, wobei sie allerdings verschwieg, daß das auch fast schon alles war, was sie über Gras in Erfahrung gebracht hatte. Heiligkeit wußte nichts. Terra wußte nichts. Es bestanden keine diplomatischen Kontakte, und die Geschwindigkeit des Informationsflusses hing unmittelbar von der Reisegeschwindigkeit der Yrariers ab – Monate, nachdem Heiligkeit um Erlaubnis nachgesucht hatte, Monate, nachdem ein Botschafter akkreditiert worden war, Monate, nachdem

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