Monströse Welten 1: Gras
Paar hörte auf zu tanzen. Die Musik spielte weiter, aber die Leute wurden langsamer, wie Aufziehpuppen, deren Energie verbraucht war.
Eugenie hatte den Raum schon zur Hälfte durchquert und kam auf Marjorie zu. Sie würde sich hüten, in aller Öffentlichkeit die Nähe von Rigo zu suchen, so klug war sie schon. Sie wußte, daß ihre Rolle nur die eines Gastes der Botschaft war, der an dieser Lustbarkeit teilnehmen durfte. Sie lächelte und streckte die Hand aus, während ihre Begleiterin am Mann neben der Tür vorbeiging…
Und Shevlok schrie auf, als ob man ihm das Herz herausgerissen hätte.
»Janetta!«
Eugenie schaute sich unsicher um; als sie sah, daß die Begleiterin ihr noch immer folgte, wandte sie sich wieder zu Marjorie um, wobei ein Ausdruck des Zweifels auf ihrem Gesicht erschien.
»Janetta!« Nun rief auch die Frau neben Marjorie, Geraldria bon Maukerden, diesen Namen.
Dann entstand ein Tumult. Geraldria ließ das Glas fallen. Klirrend zersplitterte es auf dem Boden. Die Musik hörte auf zu spielen. Shevlok und Geraldria bewegten sich wie Schlafwandler auf das Mädchen zu, das seltsame Mädchen.
Dimoth bon Maukerden rief etwas, dann Vince, sein Bruder, und schließlich stimmten auch die anderen ein. Das sonderbare Mädchen wurde eingekreist und gepackt; sie reagierte nicht. Sie wurde von einem zum anderen weitergereicht, wie eine Puppe, wobei sie den Blick unverwandt auf Eugenie gerichtet hatte, als ob ihr ganzes Bewußtsein in der anderen Frau gespeichert wäre. Schließlich schloß Shevlok sie in die Arme.
»Was haben Sie mit ihr gemacht?« fragte der neben Marjorie stehende Sylvan. »Was haben Sie ihr getan?«
»Eugenie?«
»Janetta. Dem Mädchen.«
»Bis zu diesem Augenblick habe ich sie noch nie gesehen!«
»Diese Frau, die sie hat. Was hat sie getan?« Und als Marjorie nur hilflos den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Finden Sie es heraus, schnell, oder wir werden uns gegenseitig mit toten Fledermäusen bewerfen.«
Marjorie kam nicht dazu, ihn nach der Bedeutung dieses Ausspruchs zu fragen. Und dann erschien Rigo und nahm sich Eugenie vor, die bloß weinte und jegliche Schuld bestritt und nur wirres Zeug redete, aus dem niemand der immer wütender werdenden Umstehenden schlau wurde.
»Du Dreckstück. Du fragras!« trompetete Gustave bon Smaerlok. »Was hast du mit Janetta gemacht?«
»Ruhe!« brüllte Rigo, dessen Stimme alle anderen übertönte. »Ruhe!«
Die nun eintretende Stille wurde von Eugenies dünner Stimme durchbrochen. »Ich habe sie aus Commoner Town mitgebracht«, wimmerte sie. »Ich habe sie von Jandra Jellico. Ich habe ihr nur ein Kleid genäht und das Haar frisiert. Sie war schon so, als ich sie bekommen hatte…«
Einige der versammelten Aristokraten spürten, daß sie die Wahrheit sagte, soweit sie ihr bekannt war. Eugenie war so offen wie ein Kind; sie weinte und konnte sich diesen Tumult nicht erklären. Mit ihrem Haustier hatte sie die Gesellschaft überraschen wollen. Sie hatte geglaubt, es würde lustig werden.
»Ich hab euch doch gesagt, wir sollten uns von diesem Gesindel fernhalten«, blökte Gustave, der rot vor Zorn war und dem der Geifer aus den Mundwinkeln quoll.
Rigo baute sich vor ihm auf. Das durfte er ihm nicht durchgehen lassen. »Gesindel?« grollte er. »Welches Gesindel läßt es wohl zu, daß seine Tochter derart herunterkommt und von anderen Leuten gerettet, eingekleidet und ernährt werden muß?«
»Rigo!« rief Marjorie und schob sich zwischen die beiden wütenden Männer. »Obermun bon Smaerlok, es hat doch keinen Sinn, wenn wir uns gegenseitig beleidigen. Sie sind alle sehr aufgeregt. Wir sind es aber auch.«
»Aufgeregt?« schrie Dimoth. »Meine Tochter!«
»Hört zu!« rief Rigo mit donnernder Stimme. »Wann habt ihr sie zum letztenmal gesehen?«
Daraufhin trat Schweigen ein, wobei jeder nach einer Antwort auf diese Frage suchte. Es war – es war im letzten Herbst gewesen. Im letzten Frühherbst. Sie war im letzten Herbst verschwunden. Niemand wollte zugeben, daß es schon so lange her war.
»Wir haben von ihrem Verschwinden gehört«, sagte Marjorie. »Es ist lange geschehen, bevor wir auch nur von Terra aufgebrochen waren. Bevor Sie uns die Genehmigung erteilt hatten, hierher zu kommen.«
Die Worte standen im Raum, unwiderlegbar. Janetta war lange verschwunden, bevor diese Leute gekommen waren. Janetta, die nun im Mittelpunkt eines kleinen Kreises stand, selbstvergessen tanzte und summte, lieblich wie ein Porzellanpüppchen
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