Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Monströse Welten 3: Toleranz

Monströse Welten 3: Toleranz

Titel: Monströse Welten 3: Toleranz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sheri S. Tepper
Vom Netzwerk:
damit, Blätter zu fressen, Würmer und ähnliches Getier und mit ihren Artgenossen auf einem Baumstamm den Gedanken nachzuhängen, im Sonnenlicht, vom dem sie wohl wußte, daß es warm war, aber nicht, daß es gelb war.
    Doch an einem Herbstabend, als der graue Nebel inmitten von grauem Laub und grauen Dornen aufwallte, als sie nach Sonnenuntergang auf dem Baumstamm saß, als die Schwalben gewandt und elegant über den Teich hinwegflogen, sah die Schildkröte die Vögel in ihrer ganzen Farbenpracht und verspürte plötzlich eine nie dagewesene Sehnsucht nach Flügeln.
    ›Ach, ich wünschte, ich würde sie klarer sehen‹, sagte die Schildkröte zum Ochsenfrosch am Ufer. ›Ich wünschte, ich könnte fliegen.‹
    ›Wenn du sie klarer sehen willst, mußt du zum geheimen Zufluchtsort der Vögel gehen‹, sagte der Ochsenfrosch beiläufig, als ob er die Schildkröte gar nicht ernst nehmen würde.
    Und als die Schildkröte ihn fragte, wo dieser Ort sei, wies der Ochsenfrosch nach Westen, zu den hochaufragenden Bergen und sagte der Schildkröte, der Zufluchtsort befände sich dort, inmitten der Klüfte und Schründe, wo die Vögel ihre geheimen Zusammenkünfte abhielten und ausgewählten Bittstellern Flügel verliehen. Woraufhin die Schildkröte sich sagte, daß sie unbedingt dorthin gehen und nach der Rückkehr dem Ochsenfrosch davon erzählen müsse.
    Und in der nächsten Nacht erkundigte die Schildkröte sich erneut, wohin die Vögel flogen, und die Eule wies mit der Kralle nach Westen und erzählte ihr von hohen Gipfeln und tiefen Abgründen, ohne sie jedoch ernst zu nehmen. Wieder nahm die Schildkröte sich vor, auf die Reise zu gehen und freute sich schon auf die Gesichter des Ochsenfroschs und der Eule, wenn sie ihnen von ihren Abenteuern erzählte.
    In der dritten Nacht stellte sie die Frage erneut, und diesmal war es die Fledermaus, die antwortete und quiekend von unendlichen Höhen und Tiefen erzählte. ›Niemand wagt sich dorthin‹, schrillte die Fledermaus, und die Schildkröte sagte sich, auch wenn niemand sonst es wagte, sie würde es tun.
    Also hatte die Schildkröte die Vögel drei Nächte lang beobachtet, und mit jeder Nacht war die Sehnsucht größer geworden. In der dritten Nacht um Mitternacht, nachdem die Fledermaus gesprochen hatte und die Schwalben davongeflogen waren, folgte die Schildkröte ihnen, ohne sich von irgend jemandem verabschiedet zu haben und kroch langsam auf die hohen Berge im Westen zu.
    Es wurde ein langer und beschwerlicher Weg für die Schildkröte. Zuerst ging es durch die Wüste, wo sie wohl verdurstet wäre, wenn eine Wüstenschildkröte ihr nicht gezeigt hätte, wie man Feuchtigkeit aus den Früchten eines Kaktus sog. Und dann ging es über das Felsenland, wo sie verhungert wäre, hätte ein Kaninchen ihr keine Blätter zum Fressen gegeben. Schließlich erreichte sie die Berge, wo sie viele Male aufgegeben hätte und gestorben wäre, wenn die Vorstellung sie nicht beflügelt hätte, zum Teich zurückzukehren und den Tieren dort von dieser wundervollen Suche zu berichten, bei der sie sich selbst übertroffen hatte.
    ›Sie wußten es nicht‹, sagte die Schildkröte sich. ›Sie hatten keine Ahnung, wie schwer es werden würde. So, wie sie es sagten, hörte es sich leicht an, aber wenn ich zurückkomme, werde ich ihnen sagen, wie es wirklich war…‹ Und in den kalten Nächten stellte die Schildkröte sich vor, wie sie die Geschichte ihren Schildkröten-Kameraden auf dem von der Sonne erwärmten Baumstamm erzählte, und dem Ochsenfrosch im Schilf, und der Eule und der Fledermaus, und alle würden sie über ihre Tapferkeit und Ausdauer staunen und sie bewundern.
    Von diesem Ehrgeiz angetrieben, stieg die Schildkröte immer höher, über grauen Fels und graue Klippen und im grauen Regen, Jahr um Jahr, bis sie schließlich an den Ort gelangte, wo die Schwalben in der Luft über der bodenlosen Tiefe tanzten.
    Als die Schwalben die Schildkröte sahen, brachen sie den Tanz ab und landeten neben ihr auf dem Stein, und als die Schildkröte sie dort sitzen sah, in ihrer ganzen Schönheit, wurde sie erneut von dieser Sehnsucht überwältigt und bat sie, ihr Flügel zu verleihen.
    ›Vielleicht bekommst du Flügel, doch dann mußt du deinen Panzer verlassen‹, riefen sie. Und während sie ihr sagten, daß sie vielleicht Flügel bekäme, glaubte die Schildkröte den gleichen beiläufigen Unterton zu hören, den sie schon bei der Eule, der Fledermaus und dem Ochsenfrosch gehört

Weitere Kostenlose Bücher