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Monströse Welten 3: Toleranz

Monströse Welten 3: Toleranz

Titel: Monströse Welten 3: Toleranz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sheri S. Tepper
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Wunder durch die nächste Gasse kröche und jeden Moment zum Vorschein kommen würde. Wenn er sich umdrehte, würde er es verpassen. Er würde nur dann Zeuge des Ereignisses werden, worum auch immer es sich handelte, wenn er geduldig darauf wartete.
    Eines Abends, als er in Gedanken versunken dastand, machte sein schweifender Blick eine Bewegung aus, wo sich eigentlich nichts hätte bewegen dürfen. Langsam drehte er den Kopf, erkannte eine schemenhafte, geduckte Gestalt und überführte das Bild in eine fast unglaubliche Realität – ein Mädchen. Ein Mädchen mit nervösen Zuckungen und mühsam unterdrückten Anfällen, die seine Anwesenheit neben einer massiven Tür verrieten. Die mit Schnitzereien pornographischen Inhalts verzierte Tür wies auf das dahinter befindliche Etablissement hin, ein besonders schäbiges Bordell.
    Ein Mädchen dieses Alters hatte hier nichts verloren.
    Wer war sie? Welches Kind würde sich in diese gefährlichen Gassen wagen, um sich an so einem Ort zu verstecken? Schon eine ältere und viel erfahrenere Person wäre schlecht damit beraten. Und ein Mädchen hatte im Swale schon gar nichts zu suchen!
    Er schlich sich lautlos an, wie ein Beauftragter es lernt, aus einer Richtung, die sie nicht erwarten würde. Er sagte nichts, bis er ihr eine eisenharte Hand auf die Schulter legte.
    »Was, zum Teufel, tust du hier, Mädchen?«
    Es war weniger eine Frage als ein Ausruf, und obwohl er es mit betont schroffer Stimme gesagt hatte, schien die schlaff in seinem Griff hängende Beute sich nicht vor ihm zu fürchten. Als ob sie wie ein kleines Tier vor Schreck erstarrt wäre, sich totstellte und nur darauf wartete, daß er sie losließ, damit sie ihm entwischen konnte.
    Statt dessen zog er sie in eine trübe beleuchtete Einfahrt, um sie in Augenschein zu nehmen. Sie war ein hellhäutiges Kind, spindeldürr und mit einem feuerroten Wuschelkopf. Als sie sich das Haar aus dem tränenüberströmten Gesicht schob, sah er ihre abgenagten Fingernägel und blutigen Finger. Sie hatte smaragdgrüne Augen, wobei ihr Blick indes weniger ängstlich als wachsam wirkte, und sie hatte dunkle Ringe um die Augen, als ob man ihr ein Veilchen geschlagen hätte. Er hatte solche Augen schon einmal gesehen, auch in einem Kindergesicht, aber es dauerte eine Minute, bis er sich erinnerte, wo das gewesen war. Vor zehn Jahren. In Toleranz. Ein kleiner Junge, der über die Schulter schaute. Jene Augen, Danivons Augen, hatten auch diesen aufmerksamen Ausdruck gehabt.
    »Kind«, sagte er und schüttelte sie sanft, wobei die Erinnerung ihn milde stimmte. »Was tust du hier? Es ist verdammt gefährlich hier.«
    »Ich komme immer hierher«, sagte sie und schaute ihm ins Gesicht. Sie sah einen kräftigen Mann, dem ein grauer Haarzopf über die Schulter hing; an der anderen trug er das Abzeichen eines Beauftragten. Beauftragte waren geheimnisvolle, beinahe legendäre Wesen. Sie war nicht in der Lage, seine Frage zu beantworten. Sie wußte auch nicht, was sie im Swale wollte. Sie war einfach hergekommen. Manchmal glaubte sie, sie würde hierher kommen, um vor etwas zu fliehen… wovor auch immer. Dann glaubte sie wiederum, sie würde wegen der Dinge herkommen, die es hier gab. Obwohl ihr die Worte fehlten, um den Ort zu beschreiben, spürte sie seine Natur. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, denn er war wie sie.
    »Kein guter Ort für einen Besuch«, sagte er.
    Sie versuchte es ihm zu erklären. »Es ist… es ist eine Art Geheimnis«, sagte sie. »Oder wie die Schreine. Oder wie ich.« Im Bemühen, die Natur des Swale zu verstehen, hatte sie amorphe Konzepte von Tabus und Heiligtümern entwickelt.
    »Was meinst du damit, wie du?«
    Sie zuckte die Achseln. Was sie meinte, war etwas Besonderes. Was sie meinte, war heilig, aber ihr fehlte das entsprechende Wort. Ihr war bewußt geworden, daß sie vielleicht aus dem Grund allein hier war und nicht in der Gesellschaft anderer Leute, weil sie anders war. Ihrer harrte eine besondere Bestimmung. Dieser Gedanke hatte sich allmählich in ihrem Kopf festgesetzt wie eine warme Brise, die ihr kühles Herz auftaute. Daß sie anders war, würde vieles erklären, zum Beispiel, weshalb ihr im Gegensatz zu anderen Leuten nichts gelang. Dabei war sie nicht einmal sicher, ob sie das wirklich glaubte, wenn die Idee auch tröstlich war. Tröstliche Ideen ließen sich nicht immer – beziehungsweise nicht sehr oft – verwirklichen, so daß sie sich nicht weiter damit beschäftigt hatte. Dennoch hatte

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