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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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wenn’s mir recht ist.» Sie hatte eine Theorie über schwierige Geburten. «Frauen, die sich nicht öffnen können, bei denen sich der ganze Körper versteinert, verschließt – die sind meist als Kind sexuell missbraucht worden.» Sie schaute Marie herausfordernd an. Als wollte sie sie zum Widerspruch reizen. Marie erinnerte sich, dass sie einmal auf dem Nachttisch einer frischoperierten Patientin Arnika-Globuli gefunden hatte, die sie ihr nicht verschrieben hatte. Es stellte sich heraus, dass eine der Schwestern, die von der Geburtenabteilung auf die Intensivstation gewechselt hatte, diese verteilte. «Auf der Geburtenabteilung wird halt anders gearbeitet», hatte sie sich verteidigt. Marie hatte nichts gegen Globuli. Sie wollte nur wissen, was ihre Patienten einnahmen.
    «Interessant», sagte sie deshalb nur, und die Hebamme, besänftigt, bot ihr an, die Berichte auszudrucken.
    «Danke, das wäre sehr hilfreich.» Marie wusste nicht, ob sie der Hebamme glauben wollte. Ob sie überhaupt an sexuellen Missbrauch glauben wollte. Sie kannte die Statistiken, die naturgemäß ungenau waren, sexueller Missbrauch wurde verdrängt, nicht angezeigt, man ging von Dunkelziffern aus. Offiziell war in der Schweiz jede vierte bis fünfte Frau, jeder zehnte bis zwölfte Mann als Kind sexuell missbraucht worden. Man konnte in keinem Straßenbahnwagen, in keinem Café sitzen, ohne dass mindestens zwei Menschen davon betroffen waren. Und wenn man in Betracht zog, dass Missbrauch sich fortsetzte, von einer Generation zur nächsten und quer durch sie hindurch, dass er sich in Sportvereinen und Pfadilagern, in Schulzimmern und auf Kirchenbänken vermehrte, musste man davon ausgehen, dass jeder davon betroffen war. Und das wollte Marie sich nicht vorstellen. Das, fand Marie, konnte nicht sein.
    Doch so viel wusste sie: Eine Patientengeschichte, aus der man tatsächlich etwas lesen konnte, durfte nicht nur die akuten Symptome beschreiben, nicht nur die Liste der körperlichen Beschwerden umfassen. Um wirklich helfen zu können, müsste die Ärztin nicht nur den ganzen Patienten kennen, sein ganzes Leben, sondern auch seine ganze Geschichte. Seine Herkunft, seine Eltern und Großeltern, sein ganzes inneres Dorf.
    Es war unmöglich, dachte Marie. Dann riss sie sich zusammen. Das Krankenhaus war ihr Dorf. In jedem einzelnen Bett lag ein Mensch. Jeder Patient hatte eine Geschichte. Eine Familie. Ein Leben. Alles hing mit allem zusammen, wie eine dünne Decke, die sich über alle Betten legte.
    Marie breitete alle Berichte auf dem Teppichboden aus und kniete sich hin. Sie ordnete die Blätter und versuchte, das Leben von Mira Bolliger Mehmeti, der jungen Frau mit den toten Augen, zu rekonstruieren. Sie war als Kind in die Schweiz gekommen, hatte jung geheiratet. Schon vor ihrer Heirat und bis zur Geburt ihres zweiten Kindes war sie immer wieder mit Prügelverletzungen in der Notaufnahme gewesen. Nach der Geburt ihres Sohns vor zwei Jahren hatte es aufgehört. Dafür klagte sie jetzt regelmäßig über Unterleibsbeschwerden. Die Blasenentzündungen ließen sich nachweisen, für die Bauchschmerzen hatte man keine Erklärung gefunden. Marie dachte wieder an den Patienten Schwarzenbach, den Nierenstein. Ein Schmerz konnte einen anderen verdecken.
    Sie versuchte sich zu erinnern, wie Mira ausgesehen hatte. Enganliegender, mit Glitzersteinen bestickter Trainingsanzug, die dunklen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, so hart aus dem Gesicht gekämmt, dass ihre Gesichtszüge verzerrt wirkten. Marie dachte an eine Zirkusartistin in der Pause vor dem großen Auftritt. Aber die toten Augen …
    Sie schob die Blätter zusammen, stand auf und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. Sie schaltete noch einmal die Patientengeschichten hoch. Sie wusste, dass ihr etwas fehlte, ein wichtiges Detail, ein entscheidender Hinweis. Sie konnte ihn nur finden, wenn sie das Krankenhaus als Dorf ansah, wenn sie davon ausging, dass jeder Patient mehr war, als sie auf den ersten Blick erkennen konnte.
    Sie wühlte in ihrer Schreibtischschublade, bis sie einen Schokoladeriegel fand. Das Papier war schon ganz zerknittert und der Schokoladeüberzug milchig angelaufen. Sie dachte an die Kuchenstücke, die sich in der Auslage in der Kantine langsam um sich selber drehten. Sie versprach sich zwei Stück, wenn sie den fehlenden Hinweis gefunden hatte. Der Schokoladeriegel schmeckte staubig.
    Sie startete ihre Suche noch einmal von vorn. Sie gab erst Miras

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