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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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doch ohnehin bald Ferien.» Zwei Jokertage hatte jedes Kind pro Jahr zur Verfügung, an denen es ohne Entschuldigung in der Schule fehlen durfte.
    «Nun, ich muss zur Arbeit.»
    «Treffen wir uns doch später bei dir, dann können wir alles besprechen.» Tina legte den Kopf schief und schürzte die Lippen wie ein Kind. Das tat sie immer, wenn sie etwas von ihm wollte, und es funktionierte auch immer.
    Er klopfte an Ingrids Schlafzimmertür, die angelehnt war.
    «Papa, ich bin eine Kurtisane!», rief Emma. Sie trug ein goldbesticktes Charlestonkleid, eine Pfauenfeder im Haar und eine leere Zigarettenspitze in der Hand. «Ich muss heute nicht in die Schule! Oma sagt, wir gehen später shoppen, kommst du mit?»
    «Cool.» Ted kniete nieder, um sie zu umarmen. «Aber ich muss in meine Schule. Ich habe keinen Jokertag. Ich seh dich später, Prinzessin!»
    «Ich bin keine Prinzessin! Prinzessinnen sind fremdbestimmt. Ich bin eine Kurtisane.»
    Ted stand auf. Er schaute seine Mutter nicht an. Er hatte keine Kraft mehr. An der Türe drehte er sich noch einmal um, und Emma rief ihm nach: «Sei nicht traurig, Papa! Es war eben ein Mädchengeheimnis. Mama und Oma und ich sind Mädchen. Und Gott ist ein Mädchen, aber du nicht. Sorry, Papa.»
    Ted fuhr zur Schule. Unbegründete Abneigung, fiel ihm ein, unbegründete Angst. Er wünschte, er hätte keinen Grund, Tina zu hassen, keinen Grund, Angst zu haben, er könnte seine Tochter verlieren. Aber er war ihnen ausgeliefert. Tina. Seiner Mutter. Der Angst. Es war dasselbe.
    Als er das Lehrerzimmer betrat, wurde es plötzlich ganz still. Er ging zur Kaffeemaschine, die mit ihrem Getöse den Raum füllte. Langsam wurden die Gespräche wiederaufgenommen. Er konnte die Blicke seiner Kolleginnen nicht deuten. Das Mitgefühl war aus ihnen verschwunden. Sie wichen ihm aus. Wussten sie etwa schon, dass Tina zurückgekommen war? Er setzte sich mit seinem Kaffee etwas abseits von den anderen auf einen Klappstuhl und tat so, als lese er die Zeitung von gestern.
    «Kommst du kurz zu mir ins Büro?» Martina, die Schulleiterin, stand neben ihm.
    Er nickte ihr zu, trank einen Schluck Kaffee, sie stand immer noch neben ihm.
    «Du meinst jetzt?» Er sah auf die Uhr, die Glocke würde in wenigen Minuten zum Unterricht läuten.
    «Karin vertritt dich», sagte Martina.
    «Vertritt mich?» Ted sah zu Karin hinüber, die sich zur Tür wandte. Ohne seinen Blick zu erwidern. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Er stand auf und folgte Martina in ihr Büro am Ende des Flurs.
    «Setz dich.» Martina trug ihre Lesebrille. Ted fiel auf, dass er sie in letzter Zeit selten damit gesehen hatte. Sie hatte sie immer abgenommen, wenn sie mit ihm redete. «Ich mache es kurz. Mirkos Mutter hat eine Beschwerde bei der Schulpflege eingelegt. Wegen des Unfalls. Du hast den Ausflug in den Wald nicht geplant, du hast niemanden informiert und du hast nicht die nötige Sorgfalt walten lassen. Der Zwischenfall muss untersucht werden, solange bist du vom Unterricht befreit.»
    «Aber …»
    «Tut mir leid, Ted. Mir sind die Hände gebunden.» Martina reichte ihm ein Mäppchen mit Fotokopien, ausgedruckte E-Mails, Gesprächsprotokolle, Briefe an die Behörden.
    Ted blätterte es durch. Er dachte an Anna, Mirkos Mutter, die ihn gebeten hatte, Mirko mit dem Taxi nach Hause zu schicken. Doch er hatte ihn selber gefahren, hatte mit ihm auf dem Sofa gesessen und ferngesehen, bis Anna gekommen war. Mirko war auf dem Sofa eingeschlafen. Er hatte geholfen, ihn in sein Zimmer zu tragen, und dann hatte Anna ihm ein Glas Wein angeboten. Er hatte abgelehnt. Abneigung und Angst wuchsen, wie alle Ursachen des Leidens, auf der größten von ihnen: falscher Wahrnehmung oder Verwechslung. Das leuchtete Ted ein. Aber, dachte er, war es nicht Anna, die etwas verwechselt hatte? Anna und Martina und auch Sandra, Taras Mutter, die die ganze Zeit mit Tina in Kontakt gestanden hatte? Hatten sie nicht alle ihn verwechselt? Hatten sie nicht alle Ted für die Antwort gehalten? Ted war keine Antwort. Und dafür bezahlte er jetzt.
    «Ted?» Martina war aufgestanden. Sie wies mit dem Kinn zur Tür. Die Schulglocke läutete, und er war entlassen.
    Er stand auf der Straße. Während er mit seinem Fahrradschloss kämpfte, dachte er an Emma. Sie hatte recht: Gott war ein Mädchen. Und er war ihr, wie allen Mädchen, hilflos ausgeliefert.
     
Marie
     
    «Schwere Geburt», hatte sich eine der Hebammen erinnert. «Tagelange Wehen, über sechsunddreißig Stunden,

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