Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
sich zum wiederholten Mal, wie Miras Geschichte verlaufen wäre, wenn sie einen Hausarzt hätte, dem sie vertrauen konnte. Doch die Frage war müßig.
«Und warum heulst du? Warum weint meine Frau? Was ist hier eigentlich los?»
«Herr Bolliger, es hat sich leider herausgestellt, dass Ihre Frau Trägerin eines gefährlichen Gendefektes ist, der bei ihr und leider auch ihren Kindern zu einer fortschreitenden, am Ende tödlichen Behinderung führen kann. Wir müssen unbedingt weitere Untersuchungen durchführen.»
«Meine Kinder? Was ist mit meinen Kindern? Meinem Sohn?»
Bolliger streckte die Hände nach dem Jungen aus, der erst zurückzuckte und dann erschlaffte. Widerstandslos ließ er sich aus dem Sitz heben. Sein Vater hielt ihn mit gestreckten Armen von sich, anklagend hielt er ihn Marie und Maurer entgegen wie ein Beweisstück.
«Das sind die Balkan-Gene! Dass die nichts taugen, wissen wir. Da muss man nur ein Geschichtsbuch lesen!»
Maurer machte ein Geräusch, als wollte er etwas sagen. Ließ es dann aber bleiben. Bolliger schaute Marie streng an. «Sie, mit Ihren schwarzen Haaren, wo kommen Sie her?»
«Ich?»
Er hätte Maurer fragen können, das wäre naheliegender gewesen, aber Maurer war groß und stark. Also ging er auf Marie los.
«Reinrassige Schweizer haben selten schwarze Haare, fast nie. Wir haben ein schönes, sauberes Braunhaar, bescheidenes, unauffälliges Braunhaar. Nicht blond, und schon gar nicht schwarz. Wenn Sie also nicht aus dem Bündnerland stammen …»
«Aus dem Aargau», sagte Marie. «Aber was tut das zur Sache?»
«Schauen Sie sich meine Frau an. Mira spricht wie eine Schweizerin, benimmt sich wie eine Schweizerin, sieht aus wie eine Schweizerin, aber es ist eine dünne Schicht, Frau Doktor, das sage ich Ihnen, eine ganz dünne Schicht! Da drunter hockt der ganze Dreck vom Balkan. Das Rohe, das Ungezügelte. Was meinen Sie, wie es hier manchmal aussieht? Wie auf dem türkischen Basar! Schauen Sie sich das an!» Er deutete mit dem Kinn auf den Küchentisch. Blitzschnell zog Serena ihren Zeichenblock zu sich heran und lehnte sich über ihn, als wollte sie ihn vor dem Zugriff des Vaters schützen.
«Die Untersuchungen», sagte Marie. «Wir müssen sie so schnell wie möglich durchführen. Unter Umständen kann mit frühzeitiger Behandlung das Schlimmste verhindert werden. Ich schlage vor, Sie folgen uns in Ihrem Wagen!» Sie stand auf. Sie stellte keine Fragen mehr, sie sprach Befehle aus. Sie trat als Oberärztin auf. Sie hatte nur eine Chance. Es funktionierte oder es funktionierte nicht. «Geben Sie mir den Kleinen!» Sie streckte die Arme nach dem Jungen aus, und Herr Bolliger reichte ihn ihr mit ausgestreckten Armen, als sei er schmutzig.
«Mira, packen Sie ein paar Sachen zusammen, es ist möglich, dass wir euch ein paar Tage behalten müssen. Nur das Nötigste. Herr Doktor Maurer, gehen Sie mit den Kindern schon zum Wagen vor.»
«Nehmen Sie die Kinder», sagte Maurer. Er war hellwach von Miras Zaubertrank und kampfbereit. Genau das wollte Marie nicht. Sie verständigten sich mit einem Blick. Ich bin eine Frau, ich bin harmlos, sagte Maries Blick. Maurer verstand. Er gab nach.
«Geh», sagte Mira und hob Serena von ihrem Schoß. Maurer nahm den kleinen Jungen auf den einen Arm, streckte die andere Hand nach Serena aus, die sie vertrauensvoll ergriff.
Mira sah Marie an, die unmerklich nickte. Dann stand sie auf und wollte die Küche verlassen, als ihr Mann sie am Arm packte und zurückhielt.
«Wenn meinem Sohn etwas passiert …!»
Mira nickte. «Ich weiß, Bernhard.»
«Wir haben nicht viel Zeit», sagte Marie sachlich. «Mira, packen Sie Ihre Sachen zusammen, je schneller der kleine Joshua untersucht wird, desto besser.»
Mira versuchte nicht, sich loszumachen. Marie konnte sehen, dass ihre Hand rot anlief, der Griff musste hart sein. Sie fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, Maurer mit den Kindern hinauszuschicken. Nein, dachte sie. Die Kinder zuerst. Sie trat vor.
«Herr Bolliger, lassen Sie Ihre Frau los.» Sie sagte es ruhig. Er schien sie nicht zu hören.
«Herr Bolliger», versuchte sie es noch einmal. Sie trat näher, legte ihre Hand auf seine, als wollte sie ihm den Puls fühlen. Er schaute sie nicht an, aber sie konnte sehen, wie seine Kiefer sich bewegten. Mira stand ganz still. Sie schien nicht einmal zu atmen. Verwechslung, dachte Marie. Da hatte sie es. Sie versuchte sich vorzustellen, was Herr Bolliger sah. Was passierte hier in seinen
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