Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Sonnengrüße aneinander, zwölf Runden hatte Nevada einmal gesagt, oder zwölf mal zwölf, hundertvierundvierzig. Plötzlich wusste sie nicht mehr, ob sich nun der linke oder der rechte Fuß mit einem Ausfallschritt auf der Matte nach hinten bewegen musste. Und bei welcher Runde war sie jetzt? Vier, fünf oder sieben? Je mehr sie versuchte, sich zu erinnern, desto schwerer fiel es ihr. Entmutigt sank sie auf die Matte. Sie saß mit gekrümmtem Rücken da und starrte vor sich hin. Da waren Flusen auf der Matte. Von ihrer Hose. Und der Lack an ihren Zehennägeln blätterte ab.
Gong!
Poppy schoss hoch. Ihr Handy lag noch auf dem Tisch, neben einer halbvollen Tasse mit kaltem Kaffee. Sie griff so hastig nach dem Telefon, dass es ihr aus der Hand rutschte. Fluchend bückte sie sich danach.
Die Nachricht war nicht von ihm. Natürlich nicht. Hoffe, du bist zu Hause, Hase, der Metzler macht Kontrollanrufe!
Karin, die Sekretärin. Metzler war der Personalchef. Fünf Minuten später klingelte das Telefon.
«Ja, Herr Metzler, die Grippe. Ich weiß. Aggressiver Virus. Ja, nächstes Jahr lasse ich mich impfen. Ich weiß nicht, morgen definitiv noch nicht. Vielleicht übermorgen?»
Metzler gab ihr noch zwei Tage, danach würde er ein Arztzeugnis sehen wollen. Poppy glaubte nicht, dass es so weit kommen würde. Sie konnte genauso gut wieder zur Arbeit gehen. Dann hätte sie wenigstens einen Grund, morgens aufzustehen. Sie schaute sich in ihrer Wohnung um. So viel hatte sie erledigen wollen, während sie krank spielte. Die Wintersachen endlich in den Keller bringen. Das Geschirr abwaschen, den Kühlschrank ausräumen und mit Essigwasser auswischen. Rechnungen bezahlen. Küchenkräuter anpflanzen auf dem Fenstersims.
Früher hatte Poppy in einem großen, unübersichtlichen, alten Haus mit vielen Zimmern und einem verwilderten Garten gewohnt. Jetzt hatte sie nicht einmal mehr ihre Einzimmerwohnung im Griff. Und schlafen konnte sie auch nicht mehr. In den letzten Jahren ihrer Ehe hatte sie auf dem Sofabett im Wohnzimmer geschlafen. Manchmal vor laufendem Fernseher. Peter schnarchte. Aber das war nicht das Problem. Poppy hatte einen leichten Schlaf. Sie lag nachts oft wach, ihre Gedanken kreisten wie ein Karussell langsam um sich selbst, die Holzpferde, die buntbemalten Elefanten, die immer gleichen Kutschen drehten sich rund und rund. Drehten sich um alles, was sie am nächsten Morgen tun musste, sie sah sich nachts schon die Handgriffe verrichten, die sie am Morgen tun würde, sie sah die Kleider, die Bücher, die schmutzige Wäsche, die saubere Wäsche, das Bügelbrett vor dem Fernseher, das Weinglas neben dem Sofa, die leeren Hüllen der Videokassetten – sie hätte auch gleich aufstehen und alles erledigen können, doch was, wenn Peter oder die Buben aufwachten? Poppy lag wach und plante den nächsten Tag und bangte, ob sie das alles auch schaffen würde. Im Dunkeln schienen ihr die einfachsten Handhabungen kompliziert und eigentlich nicht zu bewältigen. Je länger sie wach lag, desto schneller kreiste das Gedankenkarussell, und immer öfter drehte der Befehl mit: Du musst jetzt schlafen! Wenn du jetzt nicht einschläfst, wachst du morgen nicht rechtzeitig auf, und dann? Katastrophe! Schlaf schon! Schlaf! Schlaf!
Sie dämmerte weg, sie schreckte auf. Wie spät war es? Hatte sie etwas vergessen? Verpasst? Poppy war mit den Nerven am Ende. Sie konnte nicht mehr neben ihrem Mann schlafen, der, kaum dass sein Kopf das Kissen berührte, schon die tiefen, seufzenden Atemzüge ausstieß, die den Tiefschlaf und das Schnarchen ankündigten. Poppy war beim kleinsten Geräusch wieder hellwach, und dann lag sie im Dunkeln neben ihrem Mann und hasste ihn. Hasste ihn, weil er schlief. Weil er verhinderte, dass sie schlief. Ob er es mit Absicht tat? Wollte er sie quälen? Fertigmachen, bis sie aufgab, bis sie klein beigab? Bis nichts mehr von ihr übrig war?
Solche Gedanken hatte sie nur im Dunkeln. Deshalb schlief sie im Wohnzimmer. Sie ließ das Licht brennen und den Fernseher laufen. Wenn sie aufwachte, rauschten beruhigend die Ameisen über den Bildschirm, sie griff nach einem Buch. Die Ameisen krochen in ihre Augen, sie schlief wieder ein.
Als junges Mädchen hatte sie vierzehn, fünfzehn Stunden am Stück schlafen können, es war das Schönste gewesen, aufzuwachen, ein bisschen zu lesen, wieder einzuschlafen. Ganze Wochenenden lang, wenn ihr Vater sie nicht aus dem Bett und an die frische Luft scheuchte.
Gegen Ende ihrer Ehe
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