Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Ärztin würde irgendwann hereinkommen, ihre Patientenakte aus dem Fach bei der Tür nehmen, flüchtig durchblättern, aufschauen: «Guten Tag, Frau …» – Blick in die Akte – «Marthaler. Was führt Sie zu mir?»
Immer dieselbe Frage.
«Was?», fragte Nevada zurück. «Oder wer?»
Die Liste wurde länger. Der Rheumatologe hatte sie an den Orthopäden verwiesen, der Orthopäde an den Tropenarzt, dazwischen wurde ein Besuch beim Psychiater empfohlen.
Unterdessen erzählte sie die Geschichte ihrer Schmerzen, ihrer bodenlosen Müdigkeit wie etwas, das sie gelesen hatte. Sie wusste nicht mehr, ob sie der Wahrheit entsprach. Oder ob sie nur wiederholte, was sie schon so oft erzählt hatte, wie einen einstudierten Text. Wann hatten ihre Schmerzen begonnen? Sie wusste es nicht. Hatte sie nicht immer schon Schmerzen gehabt?
«Wann ist Ihr Vater gestorben?», fragte die Psychiaterin.
«Wie lange haben Sie in Indien gelebt?», der Tropenarzt.
Nevada erzählte so oft dieselbe Geschichte, die Handgelenke, die Ameisen, die nach innen gezogenen Pfoten des Jagdhunds, dass sie gar nicht merkte, wie die Geschichte immer länger wurde. Neue Abschnitte kamen dazu. Nevada hatte Marie gebeten, ihr einen Neurologen zu empfehlen. Halb hatte sie gehofft, Marie würde abwinken, das sei doch nicht nötig. Doch sie hatte sofort mehrere Namen genannt, den des Universitätsspitals empfohlen und auch gleich angeboten, den Termin für sie zu vereinbaren, damit es schneller gehe. Als hätte sie Robinas Verdacht geteilt. Die Schmerzen waren seit dem Besuch nicht schlimmer geworden, und manchmal fühlte Nevada immer noch die Geborgenheit in der großen Hand, die sie hielt.
«So, Sie sind also Yogalehrerin.» Der Arzt sah von ihrer Akte auf.
«Ja», sagte Nevada.
«Interessant. Und was wollen Sie von mir?»
Er stellte die Frage in barschem Ton. Doch Nevada dachte, dass sie sich das wohl einbildete, und begann zu erzählen: von ihren Schmerzen, der unerklärlichen Schwäche in den Armen, von ihrem Sturz auf die Matte, von den Untersuchungen, die bereits durchgeführt worden waren, von den Tabletten und den Magenschmerzen.
«Das weiß ich alles», unterbrach sie der Neurologe. «Das steht in Ihrer Akte. Was ich wissen will, ist Folgendes: Warum kommen Sie zu mir, einem Neurologen an einem städtischen Universitätskrankenhaus, warum gehen Sie nicht zu einem Geistheiler nach Indien oder zu einer Kräuterhexe ins Appenzell?»
Nevada zuckte zurück. Hatte sie Marie von ihrem Besuch bei Robina erzählt? War das in ihrer Akte vermerkt? Der Arzt sprach weiter. Seine Worte quollen wie schwarzer Schlamm aus seinem Mund, flossen über den wackligen Metalltisch, der zwischen ihnen stand, und ergossen sich auf den Fußboden. Nevada zog ihre Füße hoch und wickelte sie um die Stuhlbeine. Sie fragte sich, warum ein Chefarzt so billige Möbel in seinem Sprechzimmer stehen hatte, und ob er eine Antwort von ihr erwartete. Offenbar nicht, denn er sprach immer weiter: «Das ist so typisch für Ihre Sorte: Nichts als Verachtung für unseren Berufsstand, aber wenn alle Stricke reißen, kommt ihr angekrochen. Dann sind wir plötzlich gut genug. Dann ist es an uns, die Scherben zusammenzufegen, den Schaden gutzumachen, den eure Quacksalber und Scharlatane angerichtet haben. Und natürlich immer erst, wenn es gar nicht mehr anders geht. Wenn das Kind schon im Geburtskanal stecken geblieben ist, wenn der Krebs schon jedes Organ befallen hat, wenn der Blinddarm schon geplatzt ist. Ich sage Ihnen, wenn ich keinen Eid geleistet hätte, wäre ich manchmal schwer versucht, solche wie Sie einfach am Straßenrand auszusetzen. Soll doch die Natur ihren Lauf nehmen, wenn Sie die Natur schon so verehren! Warum legen Sie kein Kräuterpflaster auf? Warum setzen Sie keinen Blutegel an?»
Das Sprechzimmer füllte sich mit schwarzem Schlamm. Er bedeckte schon den ganzen Fußboden und stieg langsam höher. Blasen stiegen auf, blubberten, platzten, giftiges Gas entwich ihnen. Nevada schloss die Augen. Sie zog die Füße auf die Sitzlehne ihres Stuhles, und umfasste ihre Beine mit beiden Armen. Sie legte das Gesicht auf ihre Knie.
«Ja, jetzt fällt Ihnen nichts mehr ein, was?», höhnte der Arzt. «Sie haben doch sonst immer die Antwort auf alles!»
«Ich?» Nevada öffnete die Augen. Sie stellte ihre Füße auf den Boden zurück. Der schwarze Schlamm verschwand. Sie saß in einem schlecht beleuchteten, schäbig eingerichteten Sprechzimmer vor einem wütenden Arzt. Ihre
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