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Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen

Titel: Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Moser
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und mit orangefarbenem Desinfektionsmittel bepinselt. Es war Marie schon passiert, dass sie sich in dem Labyrinth von Hautschichten, Muskeln, Sehnen und Nerven verloren hatte. Vergessen hatte, dass das Operationsfeld ein Mensch war. Früher, als sie noch Hausärztin werden wollte, war das die logische Konsequenz der Rolle, die sie im Leben spielte: die Verlässliche. Die für alle da war. Die Tag und Nacht zur Verfügung stand. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie in der Mitte eines Dorfes leben, wie alle Fäden sich bei ihr kreuzen würden. Wie bei Dr. Vogelsang, dessen Praxis sich direkt an der Bushaltestelle in einem Neubau befand, neben dem einzigen Supermarkt, hinter dem Spielplatz. Jeder kam hier vorbei. In seinem Wartezimmer trafen sich alle, Mütter mit kleinen Kindern, Geschäftsleute, Lehrer und ihre Schüler, Ausländer, Schweizer.
    Marie war davon ausgegangen, dass sie allein bleiben, dass sie sich ganz ihren Patienten widmen würde. Nie hätte sie gedacht, dass sie eines Tages heiraten würde. Die Rolle der Landarztgattin war eine wichtige, aber sie ließ sich nicht einfach auf einen Mann übertragen. Und schon gar nicht auf einen Mann wie ihren.
    «Gion?»
    Nichts. Marie trat in den Flur und stieß mit den Fuß gegen eine Kartonschachtel. Im Eingang stapelten sich Pakete von esoterischen Versandhäusern. Marie schleppte sie ins Wohnzimmer. Sie schnitt die Klebebänder mit einem Küchenmesser durch, packte Meditationskissen aus, einen Gong, ein Sortiment Kerzen. In der zweiten, schwereren Kiste befanden sich Bücher und CDs. Beinahe jeden Tag kamen solche Pakete. Marie zerlegte die Kartonschachteln, faltete sie, band sie mit Schnur zusammen und trug sie in den Keller. Ihre Wohnung war klein, die Wände schräg, sie verfügte kaum über Stauraum. Für jeden Gegenstand, der neu dazukam, musste einer weg. Als Gion eingezogen war, hatte sie die Hälfte ihrer Einrichtung weggeworfen, weggepackt, verschenkt. Im Wohnzimmer war eine Matte ausgerollt, ein Altar aufgebaut. Eine Kerze stand neben einer Statue von Shiva, dem mehrarmigen Gott. An seinem Fuß hing noch ein Preisschild: 139 Franken. Marie riss es ab. Sie setzte sich auf das Sofa und merkte erst jetzt, dass Gion ihre Regel beherzigt hatte: Der Altar hatte den Fernseher ersetzt.
    Marie ging in die Küche. Im Kühlschrank befanden sich nur noch Sojaprodukte: Tofu, Sojaburger, Sojamilch, Sprossen. Sie riss das Tiefkühlfach auf. Die halbleere Flasche Wodka, die seit Weihnachten vor einem Jahr da lagerte, war noch da. Sie nahm sie heraus und schenkte sich ein Glas ein. Dann setzte sie sich aufs Sofa und starrte durch die rotierenden Arme der Shiva-Statue hindurch ins Leere.
     
Poppy
     
    Er meldete sich nicht mehr. Natürlich meldete er sich nicht mehr. Sie hatte ihn schließlich ausdrücklich darum gebeten.
    «Lass mich», hatte sie gesagt. «Ich bitte dich, respektiere meine Entscheidung.»
    Er hatte nicht geantwortet. Doch er hielt sich daran. Poppy wünschte, er würde es nicht tun. Sie hatte ihr Handy vor sich auf dem Tisch liegen. Es würde einen Ton von sich geben, wenn es eine Nachricht empfing, einen klaren, durchdringenden Glockenton. Trotzdem schaute Poppy immer wieder darauf. Und in ihren Briefkasten. Sie checkte ihre E-Mails. Wie besessen kontrollierte sie sein Facebook-Profil, das seit dieser schicksalhaften Freundschaftsanfrage unverändert geblieben war. Hatte er nur ein einziges Mal auf seine Seite geschaut? Wolf Bolliger ist jetzt mit Poppy Schneider befreundet. Sie hielt nach ihm Ausschau, wenn sie an der Bar am Fluss vorbei ins Yogastudio ging, sie nickte dem meist leeren Platz am Fenster zu, an dem sie zusammen gesessen hatten. Was erwartete sie?
    Was wollte sie?
    Poppys Gedanken drehten sich im Kreis. Es fiel ihr noch schwerer als sonst, ihren ohnehin schon reduzierten Alltag im Griff zu haben. Schließlich meldete sie sich bei der Arbeit krank. Sie ging nicht mehr aus dem Haus, nicht einmal mehr zum Yoga. Warum sollte sie? Warum sollte sie an dem leeren Platz am Fenster vorbeigehen? Warum sollte sie die Wunde immer wieder aufkratzen? Schließlich rollte sie ihre Matte in ihrem Wohnzimmer aus und setzte sich darauf. Und jetzt? Was sollte sie jetzt tun?
    Einatmen, ausatmen. Sitzen bleiben.
    Konnte sie nicht. Sie stand auf und reckte die Arme zur Decke. Dann beugte sie sich vor. Der Sonnengruß war ihrem Körper vertraut, eine Bewegung reihte sich an die nächste. Sie musste nicht darüber nachdenken. Einen nach dem anderen hängte sie die

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