Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
sich darum zu kümmern, welcher Fuß als Nächstes kam. Sie zählte nur ihre Atemzüge: ein und aus. Nach einer Weile legte sie sich auf den Rücken und spielte tot. Wie oft hatte sie sich schon gewünscht, tot zu sein? Das Leben schlug über ihr zusammen und verschlang sie. Wie viel einfacher musste der Tod sein. Nach einer Weile hob sie ihre Beine an und stemmte sich in die Kerze hoch. Ihr Gewicht ruhte auf den Schultern und Unterarmen. Das Kinn war gegen die Brust gepresst. Mit den Handflächen stützte sie ihren Rücken, der senkrecht nach oben zeigte.
«Es gibt nur eine Yogastellung», hatte Nevada einmal gesagt: « Tadasana , der Berg. Stellt euch gerade hin. Die Füße berühren einander. Die Knie über den Füßen, die Schultern über dem Becken, die Arme nach unten gestreckt, der höchste Punkt des Kopfes zieht nach oben. Das ist der Berg. Er steht einfach da, gerade und unverrückbar. Jede andere Stellung ist eine Variante davon.»
Poppy versuchte also, in der Kerze zu stehen wie im Berg. Nach einer Weile legte sie die Füße hinter ihrem Kopf ab. Die Oberschenkel zogen ein bisschen, nicht zu sehr. Poppy hatte sich schon den Nacken verrenkt, als sie versucht hatte, in dieser Stellung, dem Pflug, um sich zu schauen. Man sollte sich nicht mit anderen vergleichen, und man sollte den Nacken nicht drehen, wenn er gerade das Gewicht eines ganzen Körpers trug. Jetzt aber war sie allein, allein auf ihrer Matte, eine Stellung reihte sich an die andere, nach dem Pflug kam der Fisch, sie legte sich auf den Rücken und stemmte sich auf ihre Ellbogen, hob den Brustkorb, ließ den Kopf nach hinten sinken. Bis ihr Scheitel die Matte berührte. Sie atmete langsam. Ihre Kehle war nach oben gereckt, ungeschützt, zum tödlichen Biss freigegeben. In der Kehle saß ein Chakra, ein Energieknotenpunkt. Irgendeine Yogalehrerin hatte einmal die Bedeutung der einzelnen Chakren erklärt. Poppy versuchte sich zu erinnern. Was war es noch, was in der Kehle saß? Ach ja, die Wahrheit.
«In der Kehle sitzt eure persönliche Wahrheit», hatte sie gesagt – war es Oona gewesen, oder Dolores? Jetzt hatte Poppy plötzlich Mühe mit dem Atmen, kein Wunder, ihre persönliche Wahrheit steckte quer in ihrer Kehle fest, sie würgte und spuckte. Dann sank sie aus der Stellung. Wieder lag sie flach auf dem Rücken. Shavasana, die Totenstellung, war eine Vorbereitung auf den Tod. Sie übte, tot zu sein. Irgendwann musste es doch genug sein mit diesem Leben. Sie hatte es ja versucht. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, sie hatte sich so angestrengt. Und trotzdem war es nie genug. Nie gut genug.
Wie lebten die anderen? Mühelos, so schien ihr. Sie standen auf, sie gingen zur Arbeit, sie verliebten und vermehrten sich. Sie wussten, wo ihre Hausschlüssel hingen, und hatten ihre Geldbeutel immer griffbereit in der Tasche. Poppy hingegen war eine Fehlkonstruktion, ein Montagsprodukt. Irgendetwas fehlte ihr, etwas Grundsätzliches, ein Verständnis für die Welt, für die Realität. Alles, was andere so mühelos und nebenbei erledigten, morgens aufstehen, sich anziehen, pünktlich zur Arbeit erscheinen, Freundschaften pflegen, eine Beziehung aufrechterhalten, Kinder aufziehen, Yoga üben, all das fiel Poppy so schwer, als sei das Leben eine olympische Disziplin, die nur Ausnahmewesen nach jahrelangem brutalen Training absolvieren können. Dabei war es umgekehrt. Sie war die Einzige, die so hart daran arbeitete. Und es dann doch nicht hinkriegte.
Poppy sank tiefer in ihre Matte. Dann plötzlich dachte sie wieder an die Chakren, an die Farben, die ihnen zugeordnet wurden, sie versuchte sich zu erinnern, Rot, Gelb, Grün, Blau, Violett, sie versuchte die Farben auf ihrem Körper zu verteilen wie bunte Perlen. Ihre Gedanken schweiften weiter zu Marie, die immer so außergewöhnliche Farben trug. Himbeerrote Yogahose, einen tannengrünen Wildledermantel, einen senffarbenen Seidenschal. Sie fand Marie schön, die glänzenden schwarzen Haare, exakt geschnitten wie ein Helm. Sie hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie Nevada damals zur Notaufnahme gefahren hatte. Poppy hatte bewundert, wie gelassen und bestimmt sie reagiert hatte. Marie war Ärztin. So jung und doch bereit, Verantwortung für Leben und Tod zu übernehmen. Jemand wie Marie konnte sich keine Fehler erlauben. Poppys Glieder begannen zu kribbeln, in ihren Fingerspitzen zuckte es. Sie war lange genug tot gewesen.
Plötzlich musste sie unbedingt wissen, wie dieser Schauspieler hieß, der Mann
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