Montana 04 - Vipernbrut
umschlungen hielten.
Als sie endlich wieder zu Atem kam, wurde ihr klar, was geschehen war. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie biss sich auf die Lippe, damit er nicht merkte, dass sie weinte, doch er spürte den salzigen Tropfen, der ihr über die Wange rollte.
»Um Himmels willen, Selena, ich wollte dir nicht … «
»Schscht. Schon gut.« Sie schniefte, drängte die Tränen zurück und brachte ein Lächeln zustande. »Ich bin nicht traurig. Nur bewegt.«
»Warum?«
»Das möchtest du nicht wissen.«
»Doch. Unbedingt.«
»Nein … « Konnte sie es ihm sagen? Sich ihm anvertrauen? Er wartete und strich ihr so liebevoll eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn, dass sie meinte, ihr Herz müsste zerspringen.
»Selena?«
Sie stieß einen tiefen, zittrigen Seufzer aus. Vermutlich hatte er es verdient, die Wahrheit zu erfahren. »Es ist etwas Persönliches.«
»Ich denke, was gerade zwischen uns passiert ist, ist ebenfalls persönlich.«
Er würde das Thema nicht fallenlassen, das wusste sie, also rollte sie sich aus dem Bett, ging nackt ins Badezimmer und nahm ihren Morgenmantel von dem Haken an der Tür. Rasch schlüpfte sie hinein und band den Gürtel um ihre Taille, als würde ihr diese alltägliche Handlung Kraft geben für das, was vor ihr lag. Dann kehrte sie ins Schlafzimmer zurück, blieb neben dem Bett stehen und sagte: »Du hast mich nach Gabriels Vater gefragt, ob er ein Freund von der Highschool wäre … « Sie räusperte sich, straffte die Schultern und blickte aus dem Fenster. Draußen schneite es noch immer. »Er war kein Freund«, sagte sie dann, bereit, zum ersten Mal in ihrem Leben das Unaussprechliche auszusprechen: »Mein Cousin Emilio ist der Vater. Gabriels Vater.«
»Dein Cousin?«
Sie zitterte trotz des warmen Morgenmantels. »Er hat mich vergewaltigt«, sagte sie dann. »Am Abend meines sechzehnten Geburtstags.«
Kapitel einundzwanzig
Wie hatte er nur die Anzeichen übersehen können?, fragte sich O’Keefe und verfluchte sich innerlich dafür, dass er so unsensibel gewesen war. »Komm her«, sagte er und streckte die Hand aus. Sie nahm sie, und er zog sie zurück ins Bett, legte die warme Decke über sie und schloss sie fest in seine Arme. »Es tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Es ist nicht deine Schuld.«
»Ich weiß, aber … «
»Es ist vorbei.«
»Tatsächlich?« Er glaubte ihr nicht und spürte, wie sie schauderte.
»Es ist lange her.« Erneut gegen die Tränen ankämpfend, räumte sie ein: »Seitdem habe ich ein Problem mit zwischenmenschlicher Nähe.«
Das wusste er, hatte es am eigenen Leib erfahren.
Jetzt ergab es einen Sinn, dass sie damals in San Bernardino aus seinem Haus geflohen war, und er fragte sich, warum er nicht begriffen hatte, was mit ihr nicht stimmte.
»Ich … ich habe nie jemandem davon erzählt«, gab sie zu.
»Außer deinen Eltern.«
Sie zögerte, und er spürte, wie Zorn in ihm auf stieg.
»Sie wissen es nicht«, vermutete er.
»Niemand weiß davon. Nur du.«
»Aber sie müssen doch Fragen gestellt haben.« Er konnte es nicht fassen, was sie ihm da erzählte, dass sie diese Last allein getragen hatte, dass ihre Eltern dies zugelassen hatten.
»Nein, nein. Ich meine, ja, sie haben Fragen gestellt, und sie wussten, dass ich vergewaltigt worden war, aber … aber ich habe behauptet, ich hätte den Täter nicht gekannt, wäre ihm zufällig in die Hände gefallen.«
»Warum?«, fragte er entsetzt und hätte sie am liebsten geschüttelt. Es konnte doch nicht sein, dass ausgerechnet sie, die niemals einen Rückzieher machte, die stets darauf bedacht war, Unrecht aufzudecken und sämtliche Verbrecher, die ihr in die Quere kamen, zu bestrafen, ihren Cousin ungeschoren davonkommen lassen würde!
»Emilio hat mir gedroht. Hat behauptet, er würde mir auf-lauern, doch dann würde er noch seine Brüder mitbringen … Ich hätte mich nicht einschüchtern lassen dürfen, ich weiß, doch er hat geschworen, wenn ich auch nur ein Wort sagen würde, geschähe meiner kleinen Schwester das Gleiche wie mir. Also … «
»Also hast du geschwiegen?«
»Ich war erst sechzehn. Ich hatte schreckliche Angst. Und ich war … gebrochen. Meine Mutter wollte, dass ich einen Arzt aufsuche, aber mein Vater schickte mich stattdessen in die Kirche, wo ich um Vergebung bitten sollte; er gab mir nicht die Schuld an dem, was geschehen war«, fügte sie schnell hinzu, als sie seinen empörten Blick sah, »ich sollte Rat bei unserem Geistlichen suchen, aber das war
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