Montana 04 - Vipernbrut
tun?«
Pescoli grinste von einem Ohr zum anderen. »Doch, leider schon. Wie immer.« Und wie um ihre Worte zu unterstreichen, kam genau in diesem Augenblick einer der Streifenpolizisten an Alvarez’ Arbeitsplatz vorbei. Er stieß einen ungepflegten Mann in Handschellen vor sich her.
»He, immer mit der Ruhe! Nehmen Sie Ihre verfluchten Finger weg!«, knurrte der Verdächtige, der so dürr war, dass ihm die Jeans über den Hintern zu rutschen drohten. Sein Sweatshirt war nass vom schmelzenden Schnee, die Kapuze glitt ihm vom Kopf und entblößte eine mit Tätowierungen bedeckte Glatze.
»Mensch, Reggie, reiß dich zusammen«, befahl der Deputy und führte den polizeibekannten Autodieb mit einer Schwäche für Importmarken den Gang hinunter. Pescolis Handy klingelte. Sie ging dran, winkte Alvarez zu und verschwand, das Telefon ans Ohr gepresst, in Richtung ihres eigenen Schreibtischs.
Gut. Dankbar, dass sie Pescoli nicht länger Rede und Antwort stehen musste, was ihre Beziehung zu O’Keefe anbelangte, wandte sich Alvarez wieder ihrer Arbeit zu. Wie sollte sie auf die Andeutungen und Spekulationen ihrer Partnerin reagieren, wie mit deren Fragen umgehen, wenn sie nicht mal ihre eigenen beantworten konnte?
Als sie wieder allein war und auch der allgemeine Lärmpegel im Department langsam nachließ, konzentrierte sich Alvarez wieder auf ihren Monitor. Lissa Parsons’ Obduktionsbericht war hereingekommen, und sie verglich ihn mit dem von Lara Sue Gilfry. Nichts Außergewöhnliches, keine Blutergüsse oder sonstige äußerlichen Verletzungen, Todesursache Unterkühlung.
Angespannt überlegte sie, wie viele Opfer es noch geben mochte. Mein Gott, sie mussten den Kerl finden, und zwar schnell!
Sie wollte gerade nach Hause gehen, als ihr ein Vermerk auf dem Obduktionsbericht des ersten Opfers ins Auge stach. Lara Sue hatte ein Zungenpiercing, die Stelle um den Einstich herum war noch nicht verheilt, es musste also erst kürzlich gestochen worden sein. Alvarez nahm sich die Akte vor, blätterte durch die Vermisstenanzeigen und überflog die entsprechende Seite. Unter »besondere Merkmale« war die Narbe auf geführt, außerdem die Schmetterlingstätowierung, ein Zungenpiercing war allerdings nicht erwähnt.
Vielleicht hatte der Besitzer des Bull and Bear, der die Meldung ausgefüllt hatte, nichts davon gewusst.
Weil es noch ganz neu war.
»Vermutlich hat es gar nichts zu bedeuten«, sagte sie und ging am Computer noch einmal die Fotos von Lara Sue durch, um nach einer Aufnahme von dem Zungenpiercing zu suchen. Da war es schon. Sie starrte auf den Monitor und stellte fest, dass es anders aussah als die Zungenpiercings, die sie kannte. Dennoch kam es ihr irgendwie bekannt vor.
Nein.
Das konnte nicht sein.
Fast wäre ihr das Herz stehengeblieben. Nein, sie zog mit Sicherheit die falschen Schlüsse. Trotzdem überlief sie ein Schauder, als sie an ihren Ohrring dachte, der in Lissa Parsons’ Brustwarze gesteckt hatte.
War das denn möglich? Eiskalte Angst brachte ihre Kopfhaut zum Kribbeln.
Hatte der Irre den silbernen Stecker, der auf dem Foto zu sehen war, aus ihrem Haus entwendet und ihn durch Lara Sue Gilfrys Zunge gestochen?
»Das kann nicht sein«, flüsterte sie, doch noch bevor sie die Worte ausgesprochen hatte, war sie schon von ihrem Stuhl aufgesprungen und lief im Eilschritt zur Asservatenkammer. Tief im Innern wusste sie, dass das Schmuckstück ihr gehörte. Jemand hatte es aus ihrem Haus entwendet und so plaziert, dass sie es finden musste.
Er spielte mit ihr. Verhöhnte sie.
Und er wollte, dass sie das wusste.
Kapitel dreiundzwanzig
Ich habe wirklich keine Zeit für so etwas«, beharrte O’Keefe. Er saß in einem der Vernehmungsräume auf einem Plastikstuhl und wurde langsam sauer. Stinksauer.
Die Wände waren in einem undefinierbaren Grün gestrichen, der geflieste Boden seit 1962 nicht mehr erneuert worden, was man ihm deutlich ansah. An einer Wand befand sich ein großer Einwegspiegel, hinter dem zweifelsohne ein dunkler Raum lag, von dem aus die Befragung von anderen Personen mitverfolgt werden konnte.
O’Keefe wurde seit mittlerweile zwei Stunden von den Agenten Chandler und Halden vernommen, doch sie kamen einfach keinen Schritt weiter. »Ich habe Ihnen alles mitgeteilt, was ich über Gabriel Reeve weiß, außerdem den Grund, warum ich ihn bis hierher verfolgt habe.« Sie hatten ihn seine Aussage unzählige Male wiederholen lassen, als erwarteten sie, dass er sich in Widersprüche
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