Montana 04 - Vipernbrut
lassen.« Sie hatte sein Büro verlassen und sich nackt gefühlt, ungeschützt. All ihre so sorgfältig gehüteten Geheimnisse schienen plötzlich für jedermann zugänglich zu sein und wurden öffentlich diskutiert, was ihr mehr als unangenehm war. Es machte sie schier wahnsinnig. Schlimmer: Es machte ihr Angst, brachte sie dazu, wegen jeder Kleinigkeit vor Schreck aus der Haut zu fahren. Ihr war klar, dass der Mistkerl sie in Todesangst versetzen wollte, und sie musste zugeben, dass er sein Ziel beinahe erreicht hatte.
Aber eben nur beinahe.
Jetzt, auf dem Weg zur Polizeiwerkstatt, fragte ihre Partnerin sie schon wieder nach einer möglichen Verbindung zum Eismumienmörder.
»Es muss jemand aus deiner Vergangenheit sein«, sagte Pescoli und schlängelte sich die kurvige Straße den Boxer Bluff abwärts Richtung Altstadt.
»Ich habe bloß nicht die leiseste Ahnung, wer. Wir sind doch alle Möglichkeiten x-mal durchgegangen.«
»Jemand, der Lara Sue Gilfry, Lissa Parsons und Brenda Sutherland kannte.« Seit Alvarez heute Morgen die grauenvolle Weihnachtskarte bekommen hatte, war klar, dass Brenda Sutherland tatsächlich ebenfalls in die Hände des Eismumienkillers gefallen war, einem der abartigsten Serienmörder in der Geschichte des gesamten Bundesstaates. Alles andere war ausgeschlossen.
»Ich habe Chandler und Halden eine Liste mit sämtlichen Straftätern gegeben, an deren Verhaftung oder Verurteilung ich während meiner gesamten Dienstzeit beteiligt war, außerdem habe ich sämtliche mir bekannte Feinde aufgeführt, dazu alle Männer, mit denen ich jemals ausgegangen bin. Ich habe jeden aufgeschrieben, der möglicherweise ein Problem mit mir haben könnte, aber niemand ist darunter, dem ich etwas derart Abscheuliches zutrauen würde.«
Am Fuß des Hügels bremste Pescoli und hielt vor den geschlossenen Eisenbahnschranken an. Ein Güterzug rollte geräuschvoll vorbei. Seltsamerweise fühlte sich Alvarez an eine lang zurückliegende Zeit erinnert, als sie und ihre Geschwister zusammengequetscht in dem alten Kombi saßen und vor herabgelassenen Bahnschranken die vorbeiziehenden Waggons gezählt hatten. Schon damals hatte sie sich gefragt, was wohl darin verstaut war und wohin der jeweilige Zug fuhr. Sie hatte sich stets ein exotisches Ziel vorgestellt, große Städte wie Los Angeles oder San Francisco, Denver oder Seattle, im Grunde jede Stadt, die nur weit genug von Woodburn, Oregon, entfernt war.
»Er hat es auf dich abgesehen.« Pescoli griff ins Türfach und tastete darin herum, bis sie eine zerdrückte Zigarettenschachtel zutage förderte. »Leer. Mist. Sieh doch bitte mal im Handschuhfach nach.«
Alvarez öffnete die Klappe und fand Taschentücher, ein Sonnenbrillenetui und einen Wust von Zetteln, aber keine Zigaretten. »Nichts.«
»Verflixt!«
»Du wirst es überleben«, beschwichtigte Alvarez ihre Partnerin, die in besonderen Stresssituationen immer wieder heimlich ein, zwei Zigaretten rauchte und wohl nie ganz die Finger davon lassen würde, obwohl sie natürlich das Gegenteil behauptete. »Und nicht nur das: Nichtraucher leben länger!«
»Du hast gut reden.«
Der Zug raste vorbei, der letzte Waggon verschwand in der Ferne, die Schranke hob sich.
Pescoli warf die leere Packung auf den Boden. »Hast du gehört, was ich vorhin gesagt habe? Der Mistkerl hat es auf dich abgesehen.«
»Ja, ich weiß. Ich habe bloß keine Ahnung, warum.«
»Oder wer er sein könnte.«
»Das FBI arbeitet daran«, sagte Alvarez beklommen. Es hatte ihr nie gefallen, im Rampenlicht zu stehen, doch genau das war jetzt der Fall: Sie stand mittendrin.
All I Want for Christmas Is You.
Die Musikweihnachtskarte mit Brenda Sutherlands Foto darin hatte zur Folge, dass ihr Leben in winzige Stückchen zerteilt und unter dem Mikroskop betrachtet wurde, genau wie das der Opfer. Das FBI hatte Druck auf sie ausgeübt, was die Herkunft ihres Sohnes anbetraf, und sie hatte ihnen Emilias Namen nennen müssen. Wie vermutet, wurde mit einem Mal jeder, mit dem sie je in ihrem Leben zu tun gehabt hatte - ganz gleich, ob im positiven oder negativen Sinne -, zum potenziellen Verdächtigen.
Es war wirklich ein seltsames Gefühl, im Zentrum der Ermittlungen zu stehen, statt selber zu ermitteln, dachte sie jetzt, als Pescoli Gas gab und die Schienen überquerte. Aber so war es nun mal: Man hatte sie von dem Fall abgezogen.
»Und es hat niemand einen Schlüssel zu deinem Haus?«, fragte Pescoli. »Immerhin hast du dich mit ein paar
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