Montana 04 - Vipernbrut
freigegeben hatte, und nun wussten es alle. Doch hatte das im Grunde nicht auch etwas Gutes? Er blickte in den Rückspiegel. Sein Spiegelbild schaute bestätigungsheischend zurück.
Was seine Gründe anbelangte, noch länger in Grizzly Falls zu bleiben, hatte er ihr wieder nicht ganz die Wahrheit gesagt.
Er bremste vor einer roten Ampel ab und sah erneut in den Spiegel. Diesmal wirkte sein von Blutergüssen und Schwellungen entstelltes Gesicht anklagend. Na gut, er hatte sie angelogen. Na gut, sie würde stinksauer sein, wenn sie es herausfand. Na und?
Die Angst, die ihn befallen hatte, als ihm klargeworden war, dass Junior Green sie in der Garage in die Enge getrieben hatte, kam wieder in ihm hoch, und er fragte sich mit klopfendem Herzen, was passiert wäre, wenn er nicht im aller-letzten Moment dazugekommen wäre. Es hätte nicht viel gefehlt, und der brutale Ex-Footballspieler hätte sie getötet. Sicher, Selena Alvarez war eine gut ausgebildete Polizistin, die wusste, wie man mit einer Waffe umging, und die jede Menge Selbstverteidigungs-und Kampfsportkurse besucht hatte, aber das alles reichte nicht, wenn ein Irrer seine Fünfundvierziger auf sie richtete.
Das wollte er nicht noch einmal erleben. Nie wieder.
Gib’s zu, O’Keefe, es hat dich erwischt. Seit der Zeit in San Bernardino bist du in Selena Alvarez verliebt, und das hat sich nie geändert, egal, was zwischen euch vorgefallen ist.
Und genau das war die bittere Wahrheit.
»Der nächste Angehörige von Brenda Sutherland ist informiert worden«, verkündete Pescoli etwas später und blieb an Alvarez’ Arbeitsplatz stehen.
»Ich hab’s mitbekommen«, erwiderte diese. Alvarez hatte den ganzen Morgen und während der Mittagspause am Computer gesessen und Versäumtes nachgeholt, dann hatte sie sich noch einmal sämtliches Material zum Eismumienfall vorgenommen. Der Obduktionsbericht zu Brenda Sutherland würde erst in ein paar Tagen eintreffen, wegen der Dringlichkeit des Falls vielleicht etwas früher, doch sie ging ohnehin davon aus, dass daraus nichts anderes hervorgehen würde als bei den beiden vorherigen Opfern auch.
Drei Frauen hatte er bislang ermordet, doch da war noch Johnna Phillips, und es war nicht ausgeschlossen, dass der Eismumienmörder weitere Frauen in seine Gewalt gebracht hatte, über die bislang keine Vermisstenmeldung vorlag. Sie mussten ihn aufhalten!
Alvarez lehnte sich zurück und rieb sich die verspannten Nackenmuskeln. Der Lärmpegel im Büro erschien ihr heute besonders hoch, Telefone klingelten, Tastaturen klapperten, Drucker und Kopierer ratterten, die alte Heizungsanlage brummte und gluckerte, Gesprächsfetzen, Rufe und vereinzeltes Gelächter hallten durch die Gänge, und alles wurde übertönt von den Klängen eines bekannten Weihnachtslieds - Joelle gab offenbar niemals auf.
»Wenn ich richtig informiert bin, wird Darla eine weitere Pressekonferenz abhalten, zusammen mit dem FBI.«
»Ja. Später. Das FBI hat vor, die Öffentlichkeit um Hilfe zu bitten.« Pescoli grinste verhalten.
»Wie bitte?«, fragte Alvarez. »Du weißt doch etwas … « Sie verspürte ein aufgeregtes Kribbeln. »Raus mit der Sprache!«
»Wir haben endlich das Band von der Überwachungskamera, die auf den Durchgang zur Hintertür des Musikladens gerichtet ist, eine schmale Gasse zwischen den Geschäftsgebäuden. Die Aufnahmen sind ziemlich körnig, aber die Computer-Cracks haben sie schärfer hingekriegt. Nigel Timmons mag zwar eine echte Nervensäge sein, aber er hat wirklich was drauf. Das Band ist im Zimmer der Sondereinheit. Ich dachte, du würdest einen Blick darauf werfen wollen.«
»Ist er zu sehen?«, fragte Alvarez und rollte bereits ihren Stuhl zurück.
»Ja.«
»Wisst ihr, wer er ist?«
»Keine Ahnung. Wir dachten, das könntest du uns vielleicht sagen.«
»Dann sollten wir uns besser beeilen.« Alvarez stürmte den Gang hinunter, Pescoli dicht auf den Fersen. War das möglich? War dieser grauenhafte Psychopath endlich so nachlässig geworden, dass sie ihn identifizieren und einbuchten konnten?
Adrenalin pulste durch ihre Adern, als sie den Raum des Sondereinsatzkommandos betrat. Auf dem größten Bildschirm war ein Standbild zu sehen, und Nigel Timmons, wichtigtuerisch wie immer, erklärte umständlich, wie sie es angestellt hatten, die Qualität der Aufnahmen zu verbessern.
»Lass es einfach laufen«, sagte Pescoli zu dem Kriminaltechniker. Sein falscher Irokese war heute nicht ganz so perfekt frisiert, seine Augen
Weitere Kostenlose Bücher