Montana 04 - Vipernbrut
auseinandersetzen, nicht jetzt.
Eines Tages wirst du das tun müssen; du kannst das nicht immer in irgendeine dunkle Ecke drängen.
Na schön, sie würde sich damit auseinandersetzen. Aber nicht heute. Und obwohl Grace eine Verrückte war, die meinte, mit Geistern reden zu können, konnte Alvarez ihre Warnung nicht einfach so abschütteln. Selbst wenn sie nicht an den übersinnlichen Quatsch glaubte, mit dem diese seltsame Frau hausieren ging, so hatte sie dem Department in der Vergangenheit doch mehr als einmal geholfen. Es war unheimlich. Und es machte Alvarez zu schaffen.
Graces Warnung ging ihr für den Rest des Nachmittags nicht mehr aus dem Kopf, und es gelang ihr kaum, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.
Selbst dann nicht, als sie herausfand, dass Ray Sutherland erst vor sechs Monaten eine Lebensversicherung über zweihunderttausend Dollar auf seine Ex-Frau abgeschlossen hatte. Lange nach der Scheidung. Alvarez beendete ihr Telefonat mit der Versicherungsgesellschaft und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Alibi hin oder her: Der Mann hatte ein ernsthaftes Motiv, seiner Ex-Frau den Garaus zu machen. So würde ihm nicht nur das alleinige Sorgerecht zufallen, sondern er wäre auch noch um einen ordentlichen Haufen Geld reicher.
Bloß weißt du nicht, ob seine Ex-Frau wirklich tot ist. Du solltest besser nichts überstürzen.
Doch selbst jetzt, während sie mit Brenda Sutherlands rätselhaftem Verschwinden befasst war, hallten ihr Graces schaurige Worte durch den Kopf:
Ihr Sohn braucht Sie. Er ist in ernster Gefahr …
Kapitel sechs
O nein, tu’s nicht«, murmelte Dylan O’Keefe, als er dem verwahrlost aussehenden Teenager in Jeans, Jacke, Rollmütze und Stiefeln nachsetzte. Ein Rucksack hing über einer seiner schmalen Schultern und hüpfte auf seinem Rücken auf und ab, während er leichtfüßig durch die Schneewehen lief. Gabriel Reeve rannte durch Seitenstraßen, schmale Gassen und durch Gärten, huschte um Ecken, kletterte über Zäune und näherte sich im Zickzack einer Wohngegend von Grizzly Falls.
Wohin zum Teufel wollte der Junge?
O’Keefe beschlich ein ungutes Gefühl, als er um eine Ecke bog. Irgendwo in der Dunkelheit bellte ein Hund. Eilig überquerte er eine menschenleere Straße. Es war noch nicht mal zwanzig Uhr, doch dieser Teil der Stadt wirkte wie ausgestorben. Obwohl man die Straßen und Gehsteige geräumt hatte, lag schon wieder eine ordentliche Schneeschicht darauf, und er versank mit seinen Stiefeln in gut fünf Zentimetern Neuschnee. Die wenigen am Straßenrand geparkten Fahrzeuge trugen dicke Schneehauben.
Er folgte den frischen Fußspuren durch einen Garten; Gott sei Dank kam der bellende Hund nicht durch den Schnee auf ihn zugesprungen, also lief O’Keefe weiter. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er angestrengt durch den dichten weißen Vorhang. Zum Glück hingen überall festliche Lichterketten an den Dachrinnen der Häuser, und in den Gärten erstrahlten jede Menge weihnachtliche Lichterketten in Bäumen und Sträuchern, sonst hätte O’Keefe seine Taschenlampe anknipsen müssen und sich womöglich verraten. Eisige Luft schlug ihm ins Gesicht und brannte in seinen Lungen, als er den Jungen erneut ins Visier nahm. Der Kerl war sechzehn, knallhart und wurde wegen bewaffneten Raubüberfalls gesucht.
Leider war besagter Gabriel Reeve zufällig der Sohn seiner Cousine. Aggie hatte ihn angefleht, Gabe aufzuspüren, und schließlich hatte O’Keefe widerstrebend eingewilligt, hatte sogar Geld von ihr genommen, um mit seinen Ermittlungen beginnen zu können. Jetzt steckte er bis über beide Ohren in der Sache drin, was alles andere als angenehm war.
Ob es ihm gefiel oder nicht, er war in Grizzly Falls gelandet, diesem gottverlassenen Kaff. Bislang hatte der Junge nicht bemerkt, dass er verfolgt wurde, aber das würde sich gleich ändern. Jetzt, da er so nah an ihn herangekommen war, würde er ihm nicht wieder entwischen.
Gabriel rannte einen Gartenweg entlang, ganz in der Nähe von Selena Alvarez’ Reihenhaus. Das gefiel O’Keefe gar nicht, war sie doch die eine Frau auf dem Planeten, der er um jeden Preis aus dem Weg gehen wollte.
Was für ein unglücklicher Zufall, dass der Junge ihn gerade zu ihrem Haus führte!
Oder war das etwa gar kein Zufall?
Ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Gabriel schwang sich über einen weiteren Zaun. Keine zehn Sekunden später tat O’Keefe das Gleiche und landete hart auf der
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