Montana 04 - Vipernbrut
»Nein. Das war nur ein Strohfeuer.«
»Und du bist eine Lügnerin, Selena.« Pescoli hatte den Unsinn satt. Sollte Alvarez doch sonst wem etwas vormachen. »Du warst damals in ihn verliebt, und du bist es heute noch. Also erzähl mir nichts.« Sie blickte auf ihre Uhr und winkte der Kellnerin. »Hast du nicht gesagt, es gäbe heute zwei zum Preis von einem? Ich brauche dringend noch ein Bier.«
Er war mit seiner Weisheit am Ende.
O’Keefe saß auf dem Bett in seinem Hotelzimmer, die Kissen in den Rücken gestopft, den Laptop auf den Knien, eine offene Flasche Bier auf dem Nachttisch, daneben eine halb leere Tüte Chips - sein Abendessen, das er sich im Minimarkt an der Ecke gekauft hatte. Der Fernseher auf der Kommode am Fußende des Bettes lief, die Bilder eines Lokalnachrichtensenders flackerten mit heruntergedrehtem Ton über den Bildschirm. Der Wetterbericht sagte wieder einmal nichts Gutes voraus; weiterer Schnee wurde angekündigt, von Kanada zog ein Blizzard auf Montana zu.
Was für seine Suche nach dem Jungen nicht gerade hilfreich war.
»Verdammt«, murmelte er und griff nach der Bierflasche.
Mit Hilfe von Trey Williams in Helena hatte er die Anruflisten auf Gabriels Handy überprüft, doch der Junge hatte es länger nicht benutzt, so dass man ihn bislang nicht hatte orten können. Das GPS-System darin war ohnehin deaktiviert. O’Keefe hatte den Busbahnhof und die üblichen Treffpunkte überprüft, an denen ein Jugendlicher untertauchen konnte, doch entweder war der Junge dort nicht aufgekreuzt, oder er konnte sich unsichtbar machen. Er hatte Gabes Facebook-Account durchgesehen und in allen anderen sozialen Netzwerken nach ihm gesucht - vergeblich. Gabriels Seite war seit dem Raubüberfall nicht mehr aktualisiert worden. Selbst die Postings von jenem Tag lieferten keinen Hinweis darauf, was er sich dabei gedacht haben mochte. Trey Williams hatte ihm hinter vorgehaltener Hand gesteckt, dass keiner von Gabes Freunden etwas von ihm gehört hatte, und von Aggie wusste er, dass er sich bislang auch bei seiner Familie nicht gemeldet hatte.
Der Junge war wie vom Erdboden verschluckt.
Und das beunruhigte ihn. Hatte O’Keefe ihm Angst eingejagt, hatte Gabe deshalb vielleicht die Gegend verlassen? Es war durchaus möglich, dass er ein Auto gestohlen hatte oder per Anhalter weitergefahren war. Doch dass der Junge schnurstracks zu Selena Alvarez’ Reihenhaus gelaufen war, konnte kein Zufall gewesen sein.
An derartige Zufälle glaubte O’Keefe nicht. Gabe war ganz bewusst nach Grizzly Falls gekommen, zumal er in einer größeren Stadt sehr viel leichter hätte untertauchen können. Merkwürdig. Man konnte fast annehmen, der Junge wusste, dass sie womöglich seine leibliche Mutter war.
O’Keefe hatte den Anwalt angerufen, der die Adoption in die Wege geleitet hatte, um herauszufinden, ob Gabriel die Adoptionsagentur kontaktiert hatte, doch er hatte ihm nur auf Band sprechen können, und bisher hatte dieser sich noch nicht zurückgemeldet.
Der Junge war clever. Ein wahrer Zauberkünstler am Computer. Sein IQ grenzte an den eines Genies. Trotzdem war er erst sechzehn. Wie konnte er einfach so verschwinden?
Weil du es vermasselt hast. Du hattest ihn beinahe geschnappt!
Energisch schob er die Selbstvorwürfe beiseite und konzentrierte sich auf den Fernseher, wo eben Aufnahmen vom Fundort der Leiche bei der Kirche gezeigt wurden. Die Kamera schwenkte über die verschneite Krippenkulisse. Alvarez würde bis über beide Ohren mit dem Fall beschäftigt sein. Selena Alvarez!
Er spannte die Kiefermuskeln an.
War es einfach nur Pech-oder Schicksal, das zu diesem unerwarteten Wiedersehen geführt hatte?
Er überlegte, ob er sich noch ein Bier aus dem kleinen Kühlschrank nehmen sollte, den er zuvor gefüllt hatte, doch er entschied sich dagegen.
Jetzt erschien ein Mann auf dem Bildschirm. Er stand auf einem verschneiten Parkplatz und hatte die Arme um die Schultern zweier Jungen gelegt, die rechts und links neben ihm standen. O’Keefe stellte den Fernseher lauter. Während der Mann direkt in die Kameralinse blickte und seine Frau bat, nach Hause zu kommen, starrten die Jungen, beide im Teenageralter, unbeholfen zur Seite. Sie sahen elend aus.
Offensichtlich war der Mann der Vater der Jungs, und er schien zu befürchten, dass seine Frau - Ex-Frau, wie der Reporter klarstellte - ein ähnliches Schicksal ereilt haben könnte wie die Frau in dem Eisblock. Er schien sich aufrichtig Sorgen zu machen.
Armer
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