Montana Creeds - Soweit die Sehnsucht trägt (German Edition)
freigehalten hatten. Dabei versuchte sie die stechenden Blicke zu ignorieren, die man ihr von allen Seiten zuwarf.
Sie hat den armen Tim Madison verkauft! Dem eigenen Vater so etwas anzutun! Die werden seine Geschichte gnadenlos auswalzen, in Filmen, in Büchern und und und. Möchte wissen, wo das noch enden soll.
Ja, wirklich, überlegte Kristy. Wo soll das noch enden?
Der Bürgermeister von Stillwater Springs, der tagsüber für UPS Pakete ausfuhr, war George, der jüngere Bruder von Julie Danvers. Er trat ans Pult, tippte versuchsweise auf das Mikrofon und räusperte sich dann.
George war ein sympathischer Mann, verheiratet, mit drei Kindern im Vorschulalter. Er wies eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Schwester auf, vor allem was die blonden Haare und die blauen Augen anging. Allerdings war er ein fülliger Typ, und sein Haar wurde allmählich schütter. Er besuchte mit seinen Kindern oft die Bibliothek, und er war stets freundlich zu Kristy.
“Es ist mir ein großes Vergnügen”, verkündete George und klang so, als meine er es ernst, “Ihnen heute unsere beiden Kandidaten für den Posten des Sheriffs vorzustellen.”
Eine Rückkopplung in der Anlage schickte ein ohrenbetäubendes Pfeifen durch die Halle. George verzog das Gesicht und hielt sich die Ohren zu, was die auf Dylans Schoß sitzende Bonnie prompt nachahmte.
“Wir brauchen eine neue Anlage, George”, rief ein Mann gut gelaunt von der Tribüne. “Die Schule hat diese Lautsprecher anno 1957 angeschafft!”
Alle mussten lachen, auch der jugendliche Bürgermeister. Man erzählte sich, dass er über das Internet verschiedene College-Kurse absolvierte und hoffte, es eines Tages in der Politik auf die Ebene des Bundesstaats zu schaffen, und mit der Zeit vielleicht sogar noch weiter.
“Tja, Fred”, gab George schlagfertig zurück. “Ich kann eine Sonderabgabe erheben, wenn dich das glücklich macht. Dann steigt deine Grundsteuer um ein paar hundert Dollar im Jahr, und schon können wir neue Lautsprecher für die Schule kaufen.”
Gut gelaunte Buhrufe schlugen ihm von allen Seiten entgegen, obwohl Stillwater Springs ziemlich gut darin war, sich für Sonderabgaben und Schuldverschreibungen auszusprechen. Das Problem war nur, dass derzeit immer noch zwei neue Busse und ein Dutzend Computer für die Schule abbezahlt werden mussten.
Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, räusperte sich George erneut und unternahm einen weiteren Versuch, ins Mikrofon zu sprechen. “Wir haben hinter der Bühne eine Münze geworfen”, erklärte er. “Deshalb macht Jim Huntinghorse den Anfang.”
Mike verzog den Mund und erzielte noch ein paar Lacher, Jim grinste darüber. Allerdings fand Kristy, dass er ein wenig nervös wirkte, während er sein Jackett über die Stuhllehne hängte, die Krawatte geraderückte und ans Pult trat. Jim war als Junge ein richtiger Wildfang gewesen, der viel Zeit mit den Creed-Brüdern verbracht und sich so wie sie immer wieder Ärger eingehandelt hatte. Heute war er Geschäftsführer des örtlichen Kasinos, das vom Stammesrat betrieben wurde.
Logan, Dylan und einige andere spendeten Beifall und jubelten ihm zu.
Jim rang sich zu einem Lächeln durch und sah kurz zu seiner Exfrau Katherine, die in der ersten Reihe saß. “Danke”, sagte er ins Mikrofon.
Eigentlich rühmte sich Kristy damit, eine interessierte Bürgerin zu sein, die eine fundierte Meinung zu den Themen jeder Wahl hatte, ob sie auf lokaler oder auf nationaler Ebene stattfand. Doch an diesem Abend konnte sie kaum an etwas anderes denken als daran, wie stark sich Dylans Oberarm anfühlte, der gegen ihren drückte. Als dann auch noch Bonnie auf ihren Schoß krabbelte, war sie zu keinem klaren Gedanken in der Lage.
Das kleine Mädchen gab ihr einen schmatzenden Kuss und setzte sich hin.
Kristy stiegen Tränen der Rührung in die Augen.
Sie gab sich alle Mühe, sich auf die Debatte zu konzentrieren, doch als Jim und Mike ihre Wahlkampfreden gehalten hatten, konnte sie sich nicht an eine einzige Äußerung erinnern.
Erst als Dylan Bonnie von ihrem Schoß nahm und sie alle aufstanden, um die Halle zu verlassen, bemerkte Kristy die Fernsehkameras.
“In Stillwater Springs lief alles in gewohnten Bahnen”, sprach der Gegelte in sein Mikrofon, gerade als sie an ihm vorbeigingen. “Während in zwei gesonderten Mordfällen ermittelt wird, interessieren sich die Menschen vor allem für die Lokalpolitik.” Sein breites Lächeln verriet seine Herablassung und Unsicherheit.
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