Montauk: Eine Erzählung (German Edition)
gelähmt sei, eine Frau Haller, die man infolgedessen nie im Treppenhaus zu sehen bekommt. I WAS THIRTY ONE , sagt er, EXACTLY YOUR AGE . Am ersten Morgen nach dem Hochzeitsfest aristokratischen Stils liegen Blumen vor der Wohnungstür. Von Frau Haller aus dem ersten Stock. Ich gehe nicht hinauf, um zu danken. Hingegen treffe ich im Treppenhaus gelegentlich ein älteres Fräulein, das die Gelähmte betreut; sie heißt Eichelberg oder Eichelberger, man grüßt sich am Briefkasten, wobei das Fräulein jedesmal ein undurchsichtiges Lächeln zeigt. Sie hört viel Radio, die Gelähmte, nicht nur Musik, die weniger stört, auch Hörspiele und Vorträge. Ihre Stimme hören wir nie. Wie wir durch eine gemeinsame Waschfrau erfahren, kann sie ihr Bett schon seit Jahren nicht verlassen; sie wird es auch nie wieder verlassen können. INCURABLE , das ist das Wort, INCURABLE . Wenn ich, was öfter einmal vorkommt, hinaufgehen muß und Fräulein Eichelberg um etwas bitte, um Salz oder um einen Büchsenöffner oder was in unserem jungen Haushalt gerade fehlt, warte ich im Treppenhaus; ich sehe die kleine Diele und durch eine offene Türe in das Zimmer, wo die Gelähmte liegt. Sie selbst sehe ich nicht, bloß einen Schrank, dazu die Ecke eines Teppichs. Ich weiß jetzt, wo ihr Bett steht. Sie hört meine Stimme. Nachher vergesse ich sie wieder. Einmal wird es peinlich. Ich muß um elektrische Sicherungen bitten; ohne den Vorrat an elektrischenSicherungen, der bei Fräulein Eichelberger so sicher zu erwarten ist wie ihr seltsames Lächeln, hätten wir unsere junge Ehe oft im Dunkeln verbringen müssen. Man bittet mich einzutreten. Ich verstehe: Frau Haller, die schon ein Jahr lang meine Stimme kennt, wünscht den Hausgenossen einmal zu sehen. Ich lüge sofort, ich sage, daß wir grad Besuch haben. Es wären fünf oder sechs Schritte gewesen. Gern ein andermal! sage ich und bedanke mich für die Sicherungen. Anderntags lege ich einen eignen Vorrat an elektrischen Sicherungen an; ich mag nicht mehr hinaufgehen. Ich weiß eigentlich nicht, warum ich Frau Haller nicht sehen will. Ich bitte meine Frau, daß sie, wenn sie ihre Einkäufe versäumt hat, selber hinaufgehen möge. Ein Jahr lang gehe ich auch nicht wieder hinauf. In jener Zeit kommt unser erstes Kind, und ich bin entschlossen, eine andere Wohnung zu suchen, eine größere, doch dazu fehlt das Geld, und wir bleiben. Es vergeht ein weiteres Jahr, bis ich weiß, wer Therese Haller ist. Es ist nicht zu verhindern und natürlich, daß meine Frau und dieses Fräulein Eichelberg, das gelegentlich unsere Ursula hütet, sich angefreundet haben und daß meine Frau in die obere Wohnung gebeten worden ist; sie hat nicht Nein gesagt, sie hat die Gelähmte kennengelernt, die nicht einmal ihre Hände bewegen kann, nur noch ihren Kopf. Lähmung infolge einer Geburt. Das erfahre ich, während wir am Tisch sitzen, meine Frau und ich und unsere Kleine im Kinderthron, und während die Kleine sabbert, vernehme ich ferner, daß die Unheilbare mich kennt. Wir seien zusammen in die Volksschule gegangen. Therese Haller-Mock, seit Jahren habe ich täglich diesen Namen auf ihrem Briefkasten gesehen, ohne je den Mädchennamen herauszulesen: Thesy. Wir sind nicht nur zusammen in die Volksschule gegangen, MY FIRST LOVE , sagt er, BUT SHE COULD NOT KNOW THIS . Ein dralles Mädchen mit blonden Zöpfen, die wir verspotteten, um dran zerren zu können. Ich war nie mit ihr allein. Mein bester Freund, ein Arbeiterbub, liebte Thesy auch. In der Bratpfanne seiner Mutter, die tagsüber in einer Spinnerei arbeitete, gossen wir Eheringe aus Blei. Davon konnte Thesy nichts wissen. Ganze Nachmittage verbrachten wir mit dieser Gießerei, wobei das Blei, in der Bratpfanne wie Silber, beim Erkalten jedesmal den Glanz verlor, und bis man den Ring an den Finger stecken konnte, war er jedesmal matt und grau. Es blieb uns nichts anderes, als Thesy im Schulhof zu fangen und an den Zöpfen zu zerren. Ein Mal, auf einer Schulreise, küßte sie mich auf die Lippen, die Vierzehnjährige, und meinen Freund ebenso ... Ich verspreche, in den nächsten Tagen die Gelähmteeinmal zu besuchen; ich habe es wirklich vor. Wenn wir im Garten sitzen, so kann sie uns hören; ihr Fenster steht meistens offen. Ihr Leiden sei schmerzlos. Als sie in der Zeitung gelesen hat, daß ich einen beruflichen Erfolg habe, läßt sie mich beglückwünschen. Ich bin noch immer nicht zu Frau Haller hinaufgegangen. WHY NOT ? Er sagt: I JUST DON’T KNOW .
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