Montgomery & Stapleton 05 - Das Labor des Teufels
einen Kaffee zu trinken und über ihre Fälle zu reden. Doch mit diesem Schutzanzug war der Aufwand dafür viel zu groß.
Nachdem sie Sean McGillans sterbliche Überreste im Kühlraum untergebracht hatten, ging Marvin mit Laurie dorthin, wo der nächste Fall lag, ein Mann namens David Ellroy. In dem Moment, als Marvin das Schubfach mit der Leiche eines dünnen, unterernährten Afroamerikaners mittleren Alters herauszog, erinnerte sich Laurie, dass sie es hier mit einer vermuteten Überdosis zu tun hatte. Sogleich erfasste ihr geübtes Auge die Narben und Spuren an den Armen und Beinen des Mannes, wo er sich die Spritzen gesetzt hatte. Obwohl Laurie an Fällen mit Überdosis gewöhnt war, bewirkten sie bei ihr immer noch ein Gefühlschaos. In diesen Momenten hatte sie ihre Gedanken etwas weniger unter Kontrolle als sonst, und sie wurde an einen frischen, klaren, windigen Oktobertag im Jahre 1975 zurückversetzt, als sie von der Highschool, der Langley-Mädchenschule, nach Hause geeilt war. Sie hatte mit ihren Eltern auf der Park Avenue in einer großen Wohnung aus der Vorkriegszeit gewohnt. Es war der Freitag vor dem langen Kolumbustag-Wochenende, und sie war aufgeregt, weil ihr Bruder Shelly – andere Geschwister hatte sie nicht – am Abend vorher aus Yale nach Hause gekommen war, wo er im ersten Semester studierte.
Sofort als Laurie im privaten Vorraum den Fahrstuhl verließ, fiel ihr die ungewöhnliche Stille auf. Durch den Lüftungsschlitz an der Tür zum Waschraum drangen nicht die üblichen Geräusche. Sie betrat die eigentliche Wohnungstür und rief Shellys Namen, während sie ihre Bücher auf das Tischchen im Foyer legte. Dann ging sie durch die Küche und war kurz erleichtert, als sie Holly, das Hausmädchen, dort nicht antraf. Sie hatte vergessen, dass Holly ihren freien Tag hatte. Wieder rief sie Shellys Namen und sah im Arbeitszimmer hinter dem Wohnzimmer nach. Der Fernseher lief ohne Ton, was ihre Unruhe nur verstärkte. Einen Moment lang betrachtete sie sich den Affentanz in der mittäglichen Spielshow und fragte sich, warum der Fernseher nur ohne Ton lief. Schließlich setzte sie ihren Rundgang fort und rief erneut nach Shelly, überzeugt, dass jemand zu Hause sein musste. Als sie am Empfangszimmer vorbeikam, ging sie schneller, weil sie spürte, dass etwas nicht stimmte.
Shellys Tür war zu. Laurie klopfte, erhielt aber keine Antwort. Sie klopfte wieder, bevor sie versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war nicht abgeschlossen. Ihr Bruder lag, nur mit einer Unterhose bekleidet, ausgestreckt auf dem Teppich. Blutiger Schaum lief aus seinem Mund, und sein ganzer Körper war so blass wie das Knochenporzellan im Frühstückszimmer. Um seinen Oberarm hing eine lose Aderpresse, und neben seiner halb geöffneten Hand lag eine Spritze. Auf dem Schreibtisch entdeckte Laurie eine durchsichtige Tüte, die, wie sie vermutete, Speedball enthielt, eine Mischung aus Heroin und Kokain, mit der Shelly am Abend zuvor rumgeprahlt hatte. All das hatte Laurie in Sekundenschnelle erfasst, bevor sie auf die Knie fiel und versuchte, ihrem Bruder zu helfen.
Laurie hatte Mühe, sich in die Gegenwart zurückzuholen. Sie wollte nicht über ihre vergeblichen Wiederbelebungsversuche bei ihrem Bruder nachdenken. Sie wollte sich nicht daran erinnern, wie kalt und leblos sich seine Lippen angefühlt hatten, als sie ihre eigenen auf sie gedrückt hatte.
»Kannst du mir helfen, ihn auf die Rolltrage zu legen?«, fragte Marvin. »Er ist nicht sehr schwer.«
»Klar.« Laurie war froh, etwas tun zu können. Sie legte Davids Ordner ab und packte zu. Ein paar Minuten später schob Marvin die Rolltrage neben den Tisch im Seziersaal. Diesmal fasste einer der anderen Sektionsgehilfen mit an, um die Leiche auf den Tisch zu hieven. Laurie bemerkte die vertrockneten Reste von blutigem Schaum, der aus Davids Mund geflossen war. Dieser Anblick warf sie zurück in ihre beängstigenden Tagträume. Es war nicht der fehlgeschlagene Versuch, ihren Bruder wiederzubeleben, der sie beschäftigte, sondern der Streit mit ihren Eltern, dem sie sich ein paar Stunden später ausgesetzt sah.
»Hast du gewusst, dass dein Bruder Drogen nahm?«, hatte ihr Vater gefragt. Sein nur wenige Zentimeter von Laurie entferntes Gesicht war rot vor Wut gewesen. Er hatte ihren Arm gepackt und ihr seine Daumen ins Fleisch gedrückt. »Antworte mir!«
»Ja«, platzte Laurie unter Tränen heraus. »Ja, ja.«
»Nimmst du auch Drogen?«
»Nein!«
»Woher wusstest du das von
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