Montgomery & Stapleton 05 - Das Labor des Teufels
die Unterschiede zwischen ihrer und Rivas Familie abwägte, kam sie zu der Entscheidung, dass Rivas System das bessere war, auch wenn sie selbst mit Sicherheit nicht zu Hause wohnen würde wie Riva. Sie und Riva waren gleich alt.
»Soll ich für dich ans Telefon gehen?«, bot Riva an.
»Wenn’s dir nichts ausmacht. Kann ja sein, dass es Maureen oder Peter sind. Häng mir eine Nachricht an die Korkwand.« Laurie zog einen Block mit Haftzetteln aus dem Schreibtisch und ließ ihn auf das Eintragungsbuch fallen. »Ich muss sowieso wieder herkommen. Meinen Koffer lasse ich nämlich hier.«
Laurie trat auf den Flur hinaus und überlegte kurz, in Jacks Büro vorbeizuschauen und ihm von ihrer Mutter zu erzählen, entschied sich aber dagegen. Auch wenn sie wusste, dass er zu guter Letzt einfühlsam damit umgehen würde, hatte sie genug von seiner lockeren Art und wollte nicht riskieren, sich dem noch einmal auszusetzen.
Im Erdgeschoss machte sie einen kurzen Abstecher ins Verwaltungsbüro. Calvins Tür war angelehnt. Laurie wurde von den beiden beschäftigten Sekretärinnen nicht aufgehalten, als sie ins Büro des stellvertretenden Leiters hineinspähte, der vornübergebeugt an seinem Schreibtisch saß. Der Kugelschreiber sah in seiner riesigen Hand winzig aus. Laurie klopfte an der offenen Tür, woraufhin Calvin sein furchteinflößendes Gesicht hob und Laurie mit seinen schwarzen Augen fixierte. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Laurie mit ihm ständig aneinander geraten war, da er ein hartnäckiger Verfechter von Vorschriften, aber gleichzeitig ein politisch kluges Köpfchen und bereit war, diese Vorschriften entsprechend der jeweiligen Notwendigkeit auszulegen. Aus Lauries Sicht war diese Kombination unhaltbar. Die politischen Anforderungen, denen man als Gerichtsmediziner von Zeit zu Zeit ausgesetzt war, waren das Einzige, was Laurie an ihrer Arbeit missfiel.
Laurie gab ihm Bescheid, dass sie früh gehen müsse, um ihre Mutter im Krankenhaus zu besuchen. Calvin winkte sie wortlos fort. Mit ihm brauchte Laurie so etwas nicht zu klären, obwohl sie in letzter Zeit versuchte, zumindest auf der persönlichen Ebene etwas vorsichtiger zu sein.
Draußen hatte es endlich aufgehört zu regnen, sodass es leichter war, ein Taxi zu ergattern. Schon nach einer halben Stunde stieg sie vor den Stufen zum Universitätskrankenhaus wieder aus. Während der Fahrt hatte sie überlegt, was ihr Vater mit »noch einer Sache«, die er mit ihr besprechen wollte, gemeint haben könnte. Sie hatte wirklich keine Ahnung. Er hatte zwar in Rätseln gesprochen, aber vielleicht hatte er nur sagen wollen, dass Lauries Mutter in Zukunft etwas kürzer treten müsste.
Es war Besuchszeit, und in der Eingangshalle des Krankenhauses herrschte der übliche Trubel. Laurie musste sich an der Information in die Schlange stellen, um sich nach der Zimmernummer ihrer Mutter zu erkundigen. Natürlich ärgerte sie sich, dass sie nicht schon ihren Vater danach gefragt hatte. Nachdem sie an der Reihe gewesen war, führ sie mit dem Fahrstuhl in das entsprechende Stockwerk und ging an der Schwesternstation vorbei, wo die Ärzte und Pfleger so beschäftigt waren, dass sie keine Notiz von ihr nahmen. Ihre Mutter lag im VIP-Flügel, was bedeutete, dass der Flur mit Teppich ausgelegt war und an den Wänden Originalgemälde hingen. Laurie erwischte sich dabei, wie sie beim Vorbeigehen wie ein Voyeur in die einzelnen Zimmer spähte – sie kam sich vor wie in ihrem ersten Jahr als Assistenzärztin.
Die Tür zum Zimmer ihrer Mutter war, wie die meisten anderen, nur angelehnt. Laurie ging hinein, ohne anzuklopfen. Ihre Mutter lag in einem typischen Krankenhausbett mit hochgeklappten Seitengittern, in ihrem linken Arm steckte eine Kanüle mit einem Tropf. Statt des üblichen Krankenhausnachthemds trug sie einen rosa Seidenbademantel. Sie saß, gegen Kissen gelehnt, fast aufrecht im Bett, und ihr normalerweise hochfrisiertes, mittellanges silbergraues Haar klebte platt am Kopf wie eine altmodische Badekappe. Ohne Schminke war sie grau im Gesicht, die Haut schien sich enger um die Knochen zu spannen als normal, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen, als wäre sie leicht dehydriert. Sie wirkte nicht nur zerbrechlich und verletzlich, sondern in dem großen Bett auch noch viel kleiner, als sie ohnehin schon war. Sie sah auch älter aus als eine Woche zuvor, als sie sich mit Laurie zum Mittagessen getroffen hatte. Über Krebs oder einen bevorstehenden Krankenhausaufenthalt
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