Montgomery & Stapleton 07 - Die Seuche Gottes
ein, legte den Mantel ab und ließ den Blick über ihren voll gepackten Schreibtisch gleiten. Das Mikroskop bildete immer noch den Mittelpunkt. Die aufeinandergestapelten Fall- und Patientenakten strahlten etwas Bedrohliches aus. Auf einem davon lag ihre Tabelle.
Laurie räumte das Mikroskop und die Kartons mit den Objektträgern beiseite und setzte sich. Dann zog sie die Tabelle zu sich heran. Bevor sie anfing, nahm sie den Deckel von ihrem Kaffeebecher und nippte daran. Dann verzog sie unwillkürlich das Gesicht. Nicht etwa, weil der Kaffee zu heiß war, wie sie befürchtet hatte, sondern, weil er grauenhaft schmeckte. Nicht im Traum wäre ihr eingefallen, dass das Kaffee sein sollte. Sie setzte den Deckel wieder auf den Becher, stellte ihn beiseite und wollte irgendwann später ins Mitarbeiterzimmer gehen, wenn sie damit rechnen konnte, dass Vinnie eine Kanne Kaffee aufgesetzt hatte.
Sie nahm sich die nächste Fallakte und die dazugehörige Patientenakte und machte sich an die Arbeit. Keine Stunde später klingelte das Telefon. So groß ihre Konzentration gewesen war, mit der sie in ihrem fast vollkommen stillen Büro im vierten Stock gesessen hatte, so groß war jetzt der Schrecken, den das heisere, altmodische Klingeln ihres Telefons ihr einjagte. Mit klopfendem Herzen nahm sie den Hörer ab, noch bevor sie überhaupt die Gelegenheit gehabt hatte, sich zu überlegen, wer das wohl sein konnte. Es war Jack.
»Um wie viel Uhr bist du denn losgegangen?«, wollte er wissen.
»Ich weiß nicht genau. Um Viertel nach drei bin ich aufgestanden.«
»Warum hast du mich nicht geweckt? Ich hab dich beim Aufwachen vermisst.«
»Ich wollte, dass du so viel Schlaf wie möglich bekommst.«
»Bist du sehr erschöpft?«
»Ich bin seit Tagen total erschöpft. Zum Glück bin ich gestern Abend schnell eingeschlafen.«
»Ich bin froh, dass wir gestern Abend noch geredet haben«, sagte Jack. »Obwohl ich am Anfang ja eigentlich nicht wollte.«
»Ich bin auch froh darüber.«
»Na ja, ich hüpfe jetzt lieber mal unter die Dusche, zusammen mit meiner antibakteriellen Seife. Ich soll um 6.15 Uhr da sein, und jetzt ist es schon zwanzig nach fünf.«
»Was ich noch vergessen habe: Wie lange soll denn diese Patellasehnen-Transplantation dauern?«
»Dr. Anderson hat gesagt, etwas über eine Stunde.«
»Beeindruckend. Das geht ja schnell.«
»Der macht das so oft, da sitzt jeder Handgriff.«
»Wir sehen uns also gegen Mittag«, sagte Laurie.
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch«, sagte Laurie abschließend. Sie hörte es klicken. Es klang so endgültig. Langsam legte sie den Hörer zurück auf die Gabel. Was wird der Tag wohl bringen?, fragte sie sich besorgt. Sie wünschte, sie hätte zuerst aufgelegt, denn jetzt bahnte sich aus den Tiefen ihres Geistes immer und immer wieder die symbolische und verstörende Endgültigkeit dieses Klickens ihren Weg an die Oberfläche.
Laurie schüttelte alle durch das Telefonat ausgelösten düsteren Gedanken ab und wandte sich wieder ihrer Tabelle zu. Dazu nahm sie die nächste Fallakte und die dazugehörige Patientenakte von den langsam kleiner werdenden Stapeln. Sie wollte jetzt an nichts anderes mehr denken als an ihre mühselige Puzzlearbeit der Datenübertragung und klemmte sich mit großem Ehrgeiz dahinter, fast so, als ginge es um Leben und Tod. Kurz vor sieben Uhr hatte sie nur noch zwei Patienten vor sich, da kam Riva zur Tür herein.
»Was, um Himmels willen, machst du denn so früh hier?«
»Ich konnte nicht schlafen«, erwiderte Laurie. »Da dachte ich, ich kann genauso gut arbeiten.«
Riva blickte ihr über die Schulter und betrachtete die fast vollständige Tabelle. »Sehr beeindruckend! Hast du irgendwelche weltbewegenden Erkenntnisse gewonnen?«
»Kaum«, meinte Laurie. Sie überlegte kurz, ob sie Riva von dem unbekannten und möglicherweise ansteckenden Fremdkörper berichten sollte, den sie unter dem Mikroskop entdeckt hatte, ließ es aber sein. Riva wollte sich das Ding ohne Zweifel ansehen, aber Laurie war wild entschlossen, endlich ihre Tabelle fertigzustellen.
»Bleibt es bei deinem Aktentag heute?«, erkundigte sich Riva.
»Auf jeden Fall«, erwiderte Laurie. »Ich möchte diese Geschichte hier abschließen und dann Jack besuchen. Er wird doch heute operiert.«
»Ach ja, richtig«, meinte Riva. »Das habe ich ganz vergessen. Jack ist also auch nicht da. Dann gehe ich lieber mal runter und schaue nach, was über Nacht reingekommen ist.«
Um 7.25 Uhr
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