Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
und las sich die Nachricht noch einmal durch. Sie stand vor einem Rätsel. Ihr erster Gedanke war, dass der Klinik vielleicht ein Licht aufgegangen war und sie einer Obduktion doch noch zustimmen wollte. Dann ging sie weiter und ließ Neil den Zettel lesen.
»Das ist von meinem persönlichen Quälgeist«, sagte Jennifer.
»Ruf sie an!«, erwiderte Neil und gab ihr das Blatt wieder.
»Meinst du? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie irgendetwas Vernünftiges vorhaben könnte.«
»Du hast nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.«
Gemeinsam gingen sie zurück zum Empfangstresen. Jennifer erkundigte sich nach einem Telefon, von wo sie ein Ortsgespräch führen konnte. Ohne eine Sekunde zu zögern, griff Sumit nach einem der Telefone, die vor ihm standen, stellte es auf den Tresen und schob es Jennifer zu. Als ob das noch nicht genug war, nahm er den Hörer ab, gab ihn ihr in die Hand und drückte dann auf eine Taste, um eine externe Leitung freizuschalten. Und alles begleitet von einem freundlichen Lächeln.
Jennifer tippte die Nummer ein und hielt den Blick auf Neil gerichtet, während es klingelte. Sie wusste wirklich nicht, was sie erwarten sollte.
»Ah, ja«, sagte Kashmira, als Jennifer sich gemeldet hatte. »Danke für Ihren Rückruf. Ich habe wunderbare Neuigkeiten für Sie. Unser Klinikdirektor, Rajish Bhurgava, hat etwas ganz Außergewöhnliches für Ihre Großmutter arrangiert. Haben Sie schon einmal von den Ghats von Varanasi gehört?«
»Nicht, dass ich wüsste«, gab Jennifer zurück.
»Die Stadt Varanasi, von den Engländern Benares und von unseren Vorfahren Kashi, die Leuchtende, genannt, ist bei Weitem die heiligste Hindustadt in Indien. Ihr religiöses Erbe reicht über dreitausend Jahre in die Vergangenheit.«
Jennifer warf Neil einen achselzuckenden Blick zu. Sie hatte immer noch keine Ahnung, was das alles sollte.
»Die Stadt steht unter dem besonderen Schutz Shivas, und es gibt keinen heiligeren Ort für einen Übergang ins Reich der Toten als die Ufertreppen des Ganges.«
»Vielleicht könnten Sie mir sagen, was das alles mit meiner Großmutter zu tun hat«, sagte Jennifer ungeduldig, nachdem ihr klar geworden war, dass es in diesem Gespräch mitnichten um eine Obduktion gehen sollte.
»Selbstverständlich«, erwiderte Kashmira begeistert. »Mr Bhurgava hat für Ihre Großmutter etwas noch nie Dagewesenes arrangiert. Obwohl die Verbrennungsstätten an den Ghats von Varanasi ausschließlich für Hindus reserviert sind, hat er für Ihre Großmutter die Erlaubnis für einen Übergangsritus in Varanasi erwirkt. Sie brauchen dazu lediglich in die Klinik zu kommen und eine entsprechende Erklärung zu unterzeichnen.«
»Ich möchte wirklich niemanden beleidigen«, erwiderte Jennifer, »aber für mich macht es keinen großen Unterschied, ob Granny nun in Varanasi oder in Neu-Delhi verbrannt wird.«
»Dann verstehen Sie das nicht. Wer in Varanasi eingeäschert wird, erlangt ein besonders gutes Karma und eine besonders gute Wiedergeburt im nächsten Leben. Wir brauchen nur noch Ihre Genehmigung, um damit fortfahren zu können.«
»Mrs Varini«, sagte Jennifer langsam. »Morgen Früh kommen wir in die Klinik, ich und die beiden Gerichtsmediziner, mit denen ich befreundet bin. Und dann werden wir eine Abmachung treffen.«
»Ich glaube, Sie sind schlecht beraten, dieses besondere Angebot auszuschlagen. Es entstehen Ihnen keinerlei Kosten. Das Ganze ist eine Gefälligkeit für Sie und Ihre Großmutter.«
»Wie gesagt, ich möchte wirklich niemandes Gefühle verletzen. Ich weiß Ihre Bemühungen zu schätzen, aber eine Obduktion wäre mir lieber. Mein Antwort lautet: Nein.«
»Dann muss ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass das Queen Victoria Hospital sich an die Gerichte gewandt hat. Wir rechnen gegen Mittag des morgigen Tages fest mit einer richterlichen Anordnung, Ihre Großmutter, Mr Benfatti und Mr Lucas nach Varanasi zu schicken und dort einzuäschern. Ich bedaure sehr, dass Sie uns so sehr unter Druck gesetzt haben, dass eine solche Maßnahme notwendig geworden ist, aber der Leichnam Ihrer Großmutter ist, genau wie die beiden anderen Leichname, zu einer unmittelbaren Bedrohung unserer Institution geworden.«
Jennifer zuckte angesichts der Heftigkeit, mit der die Verbindung unterbrochen wurde, unwillkürlich mit dem Kopf. Dann gab sie Sumit den Hörer zurück und bedankte sich. Zu Neil sagte sie: »Sie hat einfach aufgelegt. Sie besorgen sich eine richterliche Anordnung,
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